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Landeshauptstadt: Frühlingsgefühle statt Froststarre

Weil die Kälte bisher ausblieb, wachsen Pflanzen zu schnell und Tiere vergessen die Winterruhe

Frische Radieschen im Januar? Das hat der Krampnitzer Bauer Ernst Ruden in seinen mehr als 60 Jahren in der Landwirtschaft noch nicht erlebt. Doch dieses Jahr spielt die Natur verrückt. Denn der Winter, der will und will nicht einkehren. Stattdessen erlebte Potsdam gestern den wärmsten 9. Januar seit 1893 die Wetteraufzeichnung auf dem Telegrafenberg begann, sagte Georg Kerath, der Leiter des Deutschen Wetterdienstes Potsdam. Die gestrige Tageshöchsttemperatur: 13,4 Grad Celsius. Normal wären laut Kerath rund zwei Grad.

Kälter soll es auch in den nächsten Wochen nicht werden. Das zumindest haben die Computer der Wetterstation prognostiziert, so Kerath. Dabei folge auf einen so milden November wie 2006 oft ein frostiger Januar oder Februar. Dass Kälte und Schnee bisher ausgeblieben sind, heiße aber nicht, „dass der Winter bereits gegessen ist“, so der Wetterdienstchef. Auch wenn er seinen Namen derzeit nicht verdiene, könne der Winter durchaus noch einsetzen. Und genau davor haben Potsdams Landwirte und Förster Angst. Die Gerste auf den Krampnitzer Äckern von Ernst Ruden ist mittlerweile fast 25 Zentimeter hoch. Doch eigentlich dürften die Pflänzlein „im Höchstfalle“ nur sieben Zentimeter aus dem Boden ragen, so Ruden. Er sieht den Aufwärtstrend auf seinen Feldern mit „großen Bedenken“. Denn unter einer Schneedecke könnten die viel zu langen Halme verfaulen. Darum lässt Ruden die Wildgänse in Ruhe auf seinen Äckern grasen, „obwohl wir die Vögel sonst immer als Störenfriede empfinden und vertreiben“, so Ruden. Aber dieses Jahr sei er froh, dass sie „das Getreide stutzen“.

Auch die Zugvögel selbst verhielten sich auffällig: „Sie fliegen völlig unschlüssig hin und her“, so Ruden. Bei Regen in die eine Richtung, bei klarem Himmel in die andere. Das hat auch Axel Kruschat vom Brandenburger Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) beobachtet: Viele heimische Vögel hätten die Reise in wärmere Regionen einfach nicht angetreten – etwa die Kraniche. „Der Zeitablauf kommt völlig durcheinander“, so Kruschat. Die Konsequenzen, zum Beispiel für das Nahrungsangebot, seien noch nicht genau abzuschätzen. Wolfgang Mädlow vom Brandenburger Naturschutzbund glaubt dagegen, dass „der warme Winter für manche Arten sogar günstiger ist“. Obwohl auch er schon einige Veränderungen bemerkt hat: Amseln, Kleiber oder Spechte würden schon jetzt singen, was sonst erst ab Ende Februar passiere. Verwirrung herrscht auch bei den Hausgänsen. In der Aufzuchtstation in Gransee, von der Bauer Ruden eigentlich im Mai 150 Jungtiere kaufen will, seien mitten im Winter die „Frühlingsgefühle“ ausgebrochen. „Die Ganter treiben die Gänse“, so Ruden, und diese ließen sich bereitwillig treten – viel zu früh. Die Folge: Die jungen Gössel schlüpfen bereits im April, einen Monat vor dem eigentlichen Termin – aber es gebe noch kein Gras zum Weiden und die Aprilnächte seien zu kalt für die Gänseküken, befürchtet Ruden.

Sorge hat auch Gerhard Neumann vom Bornimer Erntegarten: Wenn es im März oder April frostig werde, könnten vollständige Ernten einiger seiner Obstsorten schlicht erfrieren. Aprikosen, Pfirsiche und Kirschen seien davon betroffen: „Temperaturen von minus fünf Grad sind schon gefährlich“, so Neumann. Dabei seien geringe Minusgrade für die Früchte „eigentlich nicht schlimm“. Doch das milde Wetter im Moment sorge für einen „Vegetationsschub“, lässt die Pflanzen schneller reifen. Ein großes Problem könne darum dieses Jahr auch das Unkraut werden, das laut Ruden besonders maßlos wuchere. Da müsse er später wahrscheinlich mit der Giftkeule ran, um das zu beherrschen, meint der Landwirt.

Größer als üblich sind auch die Pflanzen in der Sanssouci-Parkgärtnerei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten. Zwar rechnet Gärtnerei-Leiterin Heidrun Woesner fest mit Frost im Februar. Aber die Blumen würden in diesem Falle lediglich „etwas zurückfrieren, jedoch nicht erfrieren“, glaubt sie. Einige Bäume dagegen könnten einen plötzlichen Wintereinbruch nicht überleben, so Potsdams Oberförster Hubertus Krüger. Weil sie wegen der warmen Temperaturen bereits Blätter austreiben und knospen, benötigen sie auch Wasser und Nährstoffe. Gefriert der Boden, können sie diese nicht mehr aus ihm herausziehen, sie sterben an „Frosttrocknis“, sagt Krüger.

Trotzdem könnte sich ein verspäteter Wintereinbruch auch positiv auf die Bäume auswirken. Denn eisige Temperaturen würden den Schädlingen den Garaus machen – etwa der Miniermotte, die laut Kruschat vom BUND in den vergangenen Jahren zunehmend die Kastanien der Region befällt. „Sie ist erst durch das wärmere Wetter angelockt worden.“ Bleibt der Frost aus, sind nicht nur Pflanzen von einer Überzahl Ungeziefer bedroht, sondern die Potsdamer selbst. Veterinärmediziner Eberhard Schein von der Freien Universität Berlin warnt, dass sich Zecken in der Region Potsdam ausbreiten könnten. „Durch den warmen Winter sind sie viel länger aktiv als sonst und können sich massenhaft vermehren.“ Das träfe auch auf Mücken zu, so Schein: „Selbst Wespen suchen inzwischen schon wieder nach neuen Standorten für ihre Nester.“ Dabei müssten sie sich eigentlich in der „Winterstarre“ befinden.

Bei dem warmen Schmuddelwetter scheinen sich auch größere Tiere wohlzufühlen. Normalerweise verbringen die Schweine von Bauer Neumann den Winter in ihren Hütten und „gehen nur für“s Geschäft raus“. Doch nun würden sie sich den ganzen Tag im Freien suhlen.

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