Landeshauptstadt: „Für die meisten ist Erzählen eine Befreiung“
Der Dokumentarfilmer und Historiker Hans-Dieter Rutsch über die Arbeit mit Zeitzeugen und die Bedeutung von Erinnerungen
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Herr Rutsch, Sie sind Dokumentarfilmer, Schwerpunkt Geschichte, und arbeiten viel mit Zeitzeugen. Sie haben unter anderem viele Potsdamer zu ihren Erinnerungen an die Garnisonkirche und die Nachkriegszeit befragt. Wie sind solche Quellen, solche persönliche Erinnerungen, wissenschaftlich und historisch einzuordnen?
Die Erinnerungen von Zeitzeugen an das Kriegsende von 1945 in Potsdam helfen, ein emotionales Bild von diesen dramatischen Wochen zu gewinnen. In den Geschichtsbüchern der Schule stehen darüber vielleicht zwei Zeilen. In wissenschaftlichen Analysen kann ich lesen, wie viele Bomben tatsächlich um welche Uhrzeit abgeworfen wurden. Aber jemandem in ein tränennasses Gesicht zu schauen, der beschreibt, wie der sumpfige Boden Potsdams während der Detonationen gebebt hat, das ist etwas anderes. Ursula Weyrauch glaubte, der Zeuge von einer Apokalypse zu sein. Der Potsdamer Schüler Enno Stephan muss 1945 zusehen, wie sein Freund wegen angeblicher Wehrkraftzersetzung von der SS erschossen wird. Was eine Vergewaltigung durch Soldaten der Roten Armee tatsächlich ist, lernte die Ufa-Schauspielerin Maria Milde kennen. Der Babelsberger Lala Bartz erinnert sich, wie er dem ersten Russen gegenüberstand. Da brach eine Welt für ihn zusammen.
Sind die Erinnerungen an etwas, das 70 Jahre zurückliegt, nicht doch in der Rückschau verändert?
Natürlich. Sie haben sich tief in das Gedächtnis der Betroffenen eingeprägt und sich dabei auch „geformt“. Manche Details wurden vergessen, andere erhielten einen höheren Stellenwert. Aber die Erinnerungen aller Zeitzeugen haben eines gemeinsam: eine tiefe emotionale Betroffenheit. Mitunter hatte ich bei den Gesprächen den Eindruck, ich rede mit jemandem über etwas, das erst einen Monat zurückliegt. So gegenwärtig sind Kriegserfahrungen. Sie traumatisieren, das ist unverkennbar, die Betroffenen bis an ihr Lebensende.
Wie gehe ich damit um, wie darf ich so etwas interpretieren?
Man muss sich bei Gesprächen mit Zeitzeugen von dem Willen nach Interpretation freimachen. Ein Zeitzeuge legt in wirklich biblischem Sinn Zeugnis ab von seiner konkreten Erfahrung. Die respektiere ich, auch wenn diese Erfahrung möglicherweise den gängigen Interpretationen über das Kriegsende widerspricht. So habe ich persönlich keinen Menschen getroffen, der über den Einzug der Roten Armee in Potsdam glücklich war. Aber historisch war es zweifellos eine Befreiung.
Wie wichtig sind solche sehr persönlichen Berichte für uns heute?
Wie leben im sogenannten Medienzeitalter mit immer kürzeren Formeln von historischen Ereignissen. Das tatsächliche Geschehen wird dabei bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Die persönlichen Schilderungen helfen uns, in die Welt der Erfahrung zurückzukehren. Die gegenwärtigen Debatten um die Garnisonkirche und den Lustgarten belegen, wie groß das Nichtwissen über Potsdams Geschichte tatsächlich ist.
Wer keine Großeltern hat, die von früher erzählen können – wo finde ich solche Quellen?
Es gibt ein umfassendes Arsenal an Büchern über die Geschichte Potsdams. Darin sind auch viele Interviews mit Zeitzeugen enthalten. Aber zum Lesen benötigt man, wie beim Zuhören, Zeit und Geduld. Auch bei der Suche im Internet. Zum Beispiel existiert das Internetportal www.garnisonkirche-wissen.de. Dort sind Dokumente aller Art, einschließlich Zeitzeugeninterviews, zusammengetragen. Da kann man sich, wenn man will, stundenlang mit Fakten und Erinnerungen auseinandersetzen. Aber das ist etwas anderes als das Zappen durch die Fernsehprogramme.
Wie sprechen Sie denn Menschen auf ein für sie möglicherweise sensibles Thema an?
Indem ich ihnen mein tatsächliches Interesse, meine Neugier signalisiere. Ich möchte immer wieder wissen, wie sich die Weltgeschichte auf dem Buckel eines Einzelnen austobt. Die meisten Zeitzeugen haben die Erfahrung gemacht, dass ihre Erlebnisse nur an Jubiläen und Jahrestagen gefragt sind.
Was sind Ihre Erfahrungen – wie offen sind alte Menschen, wenn es um diesen Teil deutscher Vergangenheit geht? Sind sie verschlossen, offen oder erleichtert, darüber zu reden?
Für die meisten ist das Erzählen eine Befreiung von traumatischen Erfahrungen. In einem Text zu beschreiben, wie man Todesangst durchlebt und an getöteten Menschen auf der Breiten Straße vorbeiläuft, ist nicht jedem gegeben. Aber erzählen kann fast jeder. Zuhören auch. Aber dafür gibt es im öffentlichen Raum eine nur gering ausgeprägte Kultur. Wir leben in einer Spaßgesellschaft – Kriegsberichterstattung gehört zur täglichen Unterhaltung in den Medien.
Die Fragen stellte Steffi Pyanoe
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