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Landeshauptstadt: Für eine Stunde ins Leben zurück

Das Collegium Musicum bietet eine neue Konzertreihe für Senioren an. Der Auftakt war ein voller Erfolg

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Früher sind Werner Schulzki und seine Frau Bärbel häufig ins Konzert gegangen. Früher, das war bevor Bärbel so schwer erkrankte. Sie ist auf ein Beatmungsgerät angewiesen und muss über eine Sonde ernährt werden. „Nur die Augen funktionieren noch“, sagt Werner Schulzki. Und natürlich die Ohren.

Am gestrigen Sonntag war das Ehepaar unter den Besuchern des Konzerts „Sinfonieorchester für Senioren“, insgesamt etwa 100 Gäste kamen an dem Vormittag in den Betlehemssaal in der Schulstraße. Der große Raum in Babelsberg ist ideal für ein Konzert – und weil er barrierefrei ist, auch für Besucher geeignet, die in einer Lebensphase angekommen sind, in der es ihnen an Mobilität mangelt. Mehr als 70 Bewohner von Pflegeheimen oder anderen Senioreneinrichtungen oder Menschen, die von einem ambulanten Pflegedienst betreut werden, in Rollstühlen, mit Rollatoren oder Gehhilfen, nahmen das Angebot des Collegium Musicum auf eine Stunde sinfonischer Musik an. Begleitet wurden sie von Betreuern und Angehörigen – der Saal war am Ende gut gefüllt. „Wir sind überwältigt von der Resonanz“, sagte Konzertkoordinatorin und Geigerin Barbara Scholz. Bereits das Testkonzert vor gut einem Jahr, bei dem der Bedarf für eine solche Veranstaltung geprüft wurde, war gut angenommen worden. „Wir hatten uns ganz bewusst entschieden, hierher einzuladen – und eben nicht in die Einrichtungen zu gehen“, sagt Orchesterleiter Knut Andreas. Sein Eindruck sei, dass die Besucher – Patienten sowie Betreuer – diese Auszeit vom oft anstrengenden Alltag sehr genießen. „Wir holen die Menschen für eine Stunde ins Leben zurück“, habe ihm die Mitarbeiterin eines Heims erfreut gesagt.

Eine Stunde, in der viele nach langer Zeit wieder einmal den vollen Orchesterklang erleben. Manche der Besucher hatten sich schick gemacht, ein Herr im Rollstuhl trug weißes Hemd und Sakko, ein anderer Anzug, Hut und Halstuch. Es ist etwas Besonderes, doch so ein Ausflug sei vor allem sehr anstrengend, für die Betroffenen als auch für die Betreuer. „Es ist sehr aufwendig für uns“, sagte Julia Laabs, Sozialarbeiterin in der Wohngemeinschaft 3W Am Kanal, eine Einrichtung ausschließlich für Menschen, die auf Beatmungsgeräte angewiesen sind. Der Kraftakt, sieben ihrer Bewohner gleichzeitig für ein Konzert fertig zu machen, dazu der Transport, war nur mit zusätzlichem Personaleinsatz zu bewältigen. Der teure Fahrdienst sei nur über Spenden finanzierbar, sagte sie. Dennoch sei es eine tolle Idee, eine schöne Abwechslung. Der jüngste WG-Bewohner, der zum Konzert mitkam, war ein 28 Jahre alter Mann – das Motto „Seniorenkonzert“ sei selbstverständlich kein Hindernis für Besucher anderer Altersgruppen, hatte es dazu im Vorfeld geheißen. Und auch zwei Frauen mit ihren Babys waren gekommen, saßen mit den Kinderwagen hinten im Saal. „Abends um 19 Uhr schläft die Kleine schon, da kann man, wenn man das Kind mitnehmen will, nicht mehr ins Konzert gehen“, sagte eine Mutter. Der Vormittag, das sei eine gute Zeit.

Zu hören gab es Ausschnitte aus dem Programm, das das Collegium Musicum am kommenden Samstag beim Konzert „Klassik auf dem Weberplatz“ aufführen wird. „Zu den Sternen“ vereinte drei Stücke aus Gustav Holsts „Planeten“, Filmmusik aus klassischen Science-Fiction- Filmen, aus „Star Trek“, „Star Wars“ und dem Hollywood-Erfolg „E.T.“ „Erinnern Sie sich?“, fragte Knut Andreas. „Das war dieser kleine niedliche Außerirdische in den 80ern.“ Orchesterleiter Andreas gab jeweils kurze Einführungen zu den Stücken, stellte einzelne Instrumente des über 70 Personen starken Orchesters genauer vor. Für den vollen Klang und die nötige Tiefe werden bei diesem Programm die Holzbläser mit Bassoboe, Bassklarinette, Kontrafagott ergänzt, dazu kommen mehrere große Pauken. Andreas ließ die Instrumente zeigen und einzeln vorführen. Überhaupt war das Willkommen durch den Dirigenten in jeder Hinsicht barrierefrei, Andreas' Ansprache laut und deutlich – verbunden mit dem Versprechen: „Es wird heute recht laut!“

Das fanden die Zuhörer gut, viele wünschten sich am Ende eine Zugabe und wollen im Herbst zum nächsten Konzert wiederkommen. Denn eine Fortführung dieser Idee, für weniger mobile Menschen Musik bei freiem Eintritt und zu praktikablen Bedingungen anzubieten, ist geplant. In diesem Jahr fördert die Stadt Potsdam das Projekt mit 2000 Euro. Unterstützung gab es auch über das Netzwerk „Älter werden in Potsdam“: Über diese Plattform konnten alle Einrichtungen angeschrieben werden, wie beispielsweise Pro Curand in der Hegelallee. Sieben Heimbewohner und drei Betreuer waren gekommen, selbst die Heimleiterin Maritta Melcher. „Wir machen das heute zusätzlich zum regulären Dienst“, sagte sie. Es sei leicht gewesen, die Menschen für den Konzertausflug zu begeistern, sagte Pflegedienstleiterin Kerstin Marx. „Eine gute Idee, gerade für Menschen, die sonst nie rauskommen oder keine Angehörigen mehr haben.“

Manche Gäste waren mit Angehörigen gekommen, nutzten die Gelegenheit, mal wieder gemeinsam etwas zu unternehmen. Und niemanden störte es, wenn ein Beatmungsgerät schnaufte.

Für das nächste Konzert im November wünscht sich das Ehepaar Schulzki etwas von Strauß – oder Mozart. „Wir sind Mozart-Fans“, sagte Werner Schulzki, während er seiner Frau im Rollstuhl Kissen und Decke für die Heimfahrt richtete.

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