Von Guido Berg: Gangstermädchen adieu
Cindy hat Angst vor Madleen, einer 14-Jährigen, die die 16-Jährige brutal verprügelte. Man sieht sich immer zweimal im Leben: Darum ist sie froh, dass sich Madleen auf einen Täter-Opfer-Ausgleich einließ
Stand:
Der Altersunterschied von zwei Jahren ist ihnen nicht anzusehen. Wer aber ist die Jüngere von beiden? Wer ist die 14-Jährige? Wer ist die, die den Kopf der anderen in ihre Hände nahm, um ihn mit Wucht gegen ihr Knie zu stoßen? Die zunächst mit der flachen Hand zuschlug, dann mit der Faust, ins Gesicht, in den Bauch? Wer von den beiden ist die Täterin, wer das Opfer?
Die eine hat schwarz gefärbte Haare, sie trägt einen schwarzen Pullover, einen Schal, ihr Mund ist schmal, etwas verkniffen. Weil sie Angst hat? Oder ist es der Trotz der Täterin, den sie nur schwer verbergen kann? Das Mädchen ihr gegenüber trägt eine helle Bluse, ihr braunes Haar ist nach hinten gekämmt; sie hat ein Tuch um den Hals und klare, neugierige Augen. Ist sie die, die sich fürchtet, der anderen in der Stadt noch einmal zu begegnen? Ihre Mutter, die sie zur dritten Sitzung des Täter-Opfer-Ausgleichs begleitet, sagt, man treffe sich immer zweimal im Leben. Oder ist sie die, der eine Anklage wegen gefährlicher Körperverletzung droht, falls sie nicht mithelfen will, die Ängste der anderen zu lindern?
Sie sitzen sich gegenüber. Keine von beiden sieht aus, als sei sie vom Wege abgekommen, als könnte man sie nicht eben mal bitten, kurz auf das eigene Kind aufzupassen. Und doch sind es Madleen und Cindy*. Eine von ihnen hat derart auf die andere eingeschlagen, als hätte sie zu oft die falschen Filme gesehen.
Die Täterin ist die mit der hellen Bluse, die mit den neugierigen Augen. „Vor einem Jahr war ich dümmer als jetzt“, sagt Madleen. Vor einem Jahr, das war der 11. April 2008. Auf einem Rummelplatz geraten die beiden Mädchen in Streit. Nicht zum ersten Mal, die jungen Brandenburgerinnen kennen sich. Eine Freundin feuert Madleen an. „Mich kann man schnell reizen“, erzählt sie, „irgendwann wurde ein Schalter umgelegt und dann war es vorbei“. Es entstand ein „Gruppenzwang“, wie sie es im Rückblick erkennt. „Mach weiter! Doller! Stärker! Härter!“ Die Freundin, die nun keine mehr ist, habe sie aufgehetzt.
Cindy, die schmerzende Blutergüsse im Gesicht davontrug, will, dass „Madleen aus der Sache rauskommt“. Sie hatte den größten Schritt zu gehen. Sie musste bereit sein, sich mit Madleen zu treffen, sich mit der Situation derjenigen auseinanderzusetzen, die sie nahezu krankenhausreif schlug. Cindy musste ihre Angst vor Madleen überwinden. 100 Euro Schmerzensgeld hat Cindy von Madleen bekommen. Bald werden sie sich allein wiedersehen, ohne Madleens Mutter und ohne Matthias Beutke vom Diakonischen Werk Potsdam, der Mediator im Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) ist. Das hat Madleen Cindy angeboten: Sie lädt sie vier Mal ein, ins Café, ins Schwimmbad, ins Kino und in die Disco.
„Die Zahl der weiblichen Straftäter nimmt zu“, erläutert Matthias Beutke. Und wenn Gewalt unter Mädchen ausbricht, dann „heftig“. Die Empfehlung für einen Ausgleich zwischen Cindy und Madleen kam von der Staatsanwaltschaft, erläutert der TOA-Mediator. Beide müssen dazu bereit sein, das Opfer muss dem Täter gegenübertreten wollen, der Täter dazu bereit sein, „Verantwortung zu übernehmen, etwas gut machen wollen“. In diesem Fall hatte „die Geschädigte vor der Beschuldigten großen Horror“, schätzt Beutke ein.
Madleen findet, es ist „ein komisches Gefühl, dass jemand Angst vor mir hat“. Diese Art, zu kämpfen, den Kopf des anderen in die Hand nehmen und ihn gegen das eigene Knie schlagen, habe sie nicht aus irgendeinem Film. Als Beispiel für Medienkritik taugt ihr Fall nicht. Madleens Lieblingsfilm heißt „Titanic“.
Sie glaubt eher, das „in der Realität“ aufgeschnappt zu haben, auf einem Havelfest, „da sieht man so etwas“. Aber bewusst gemerkt habe sie sich das nicht. Die Frage, ob diese Brutalität noch in ihr steckt, wehrt sie ab. „Nein“, so ihre Antwort.
Madleen betreibt jetzt einen „aggressiven Sport“: Handball. Wer sich dort nicht im Griff hat, fliegt vom Spielfeld. Die 14-Jährige hat sich intensiv mit ihrer Tat auseinandergesetzt, doch wie eingeübt wirken ihre Sätze nicht. „Ich muss mich auspowern“, erzählt sie, „sonst kann ich nicht friedlich einschlafen. Alles muss weh tun“. Früher konnte sie viel „unbewusster“ rumtoben, heute müsse sie in der Schule stillsitzen und zuhören, deutet sie einen Bewegungsmangel als Ursache an: „Ich bin ein Actionmensch.“
Fortan will sich Madleen aus der Szene heraushalten, in der sie zur Täterin wurde. Ohne den Täter-Opfer-Ausgleich, glaubt sie, wäre sie noch heute „ein Gangstermädchen“. Mehrmals spricht sie auch von dem nun überwundenen Wunsch, eine „Gangsterbraut“ zu sein. Diese romantisch-verklärte Idee einer Identität ist einer klaren Vorstellung über ihre Zukunft gewichen. Sie will ihr Abitur machen und Polizistin werden. Auf diesen Gedanken kam sie, als sie Polizisten nach ihrer Tat verhörten. „Man wächst beim Täter-Opfer-Ausgleich über sich hinaus“, so ihr Fazit. „Es hat mich für mein Leben weitergebracht.“
Und Cindy? Friseurin ist ihr Traumberuf, weil sie gern mit Frisuren experimentiert. „Sie ist ruhiger geworden“, sagt sie heute über Madleen. Angst hat sie nicht mehr vor ihr. Sie müssten sich in der Stadt nicht einmal aus dem Weg gehen, findet sie. Möglich wäre sogar, dass sie sich „Guten Tag“ sagen. Als sie sich nun vor Kurzem allein in einem Café trafen, war noch mehr möglich: Beide beobachteten einen aufgeregten Typen, der an einem Spielautomaten gerade am Gewinnen war. Plötzlich sahen sich die beiden Mädchen an – und konnten sich kaum halten vor Lachen.
(* Namen redaktionell geändert)
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