Von Olaf Glöckner: Gefahr eines Bürgerkrieges
Prof. Martin Sabrow über die Gründe, warum die SED-Führung im Herbst 1989 auf Gewalt verzichtete
Stand:
Wie war es möglich, dass in Peking die Panzer oppositionelle Studenten niederwalzten, im rumänischen Timiÿoara Protestmärsche im Kugelhagel endeten, doch bei den Leipziger Montags-Demos kein einziger Schuss fiel? Im Herbst 1989 besaßen die SED-Machthaber noch alle Mittel, eine „chinesische Lösung“ herbeizuführen, auch wenn der Protest der Straße mit jedem Tag wuchs. Wieso verzichteten sie „freiwillig“ auf die Ultima ratio? Diesen Fragen geht das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) derzeit mit einer Öffentlichen Ringvorlesung „Das Wunder von 1989 – der Umbruch im Ostblock und die Rolle der Gewalt“ nach. ZZF-Direktor Martin Sabrow gab nun den Auftakt und suchte nach Erklärungen für den friedlichen Ausgang des Umbruchs speziell in der DDR.
Noch am 4. Oktober 1989, berichtete Sabrow, verhafteten und misshandelten Sicherheitskräfte mehr als 1000 Demonstranten in Dresden. Ähnliches wiederholte sich drei Tage später in Ostberlin – ausgerechnet zum 40. Geburtstag der DDR. In Leipzig stand nun die größte Protestdemonstration der bisherigen Geschichte im SED-Staat an. Hierfür hielt sich das hochgradig verunsicherte Regime alle Optionen offen. Eine „Abrechnung mit den Konterrevolutionären“ drohte man unverhohlen in der lokalen Presse an. Spezialeinheiten der „Nationalen Volksarmee“ waren eigens zur Demo-Auflösung rekrutiert, und die Leipziger Kliniken legten zusätzliche Bettenkapazitäten und Blutkonserven an.
Noch am 8. Oktober ließ der greise SED-Vorsitzende Honecker die konsequente Unterbindung weiterer Proteste anordnen. Stasi-Chef Mielke meldete „volle Einsatzbereitschaft“, und „Kronprinz“ Egon Krenz war berühmt-berüchtigt für seine Sympathien mit der chinesischen KP. Warum also blieb der Befehl aus, am 9. Oktober in Leipzig die „Konterrevolution“ mit Gewalt zu ersticken? Durch die Brille eines Erich Honecker, Willi Stoph oder Kurt Hager musste dies alles nach „Hochverrat“ und Machtschwund aussehen – eine Situation, in der kein Lenin, kein Stalin und ganz sicher auch kein Ulbricht gezögert hätte, die Pistole zu ziehen. Dass sich die SED-Führung schon völlig von Gorbatschow und dem „großen Bruder“ Sowjetunion im Stich gelassen fühlte, hält ZZF-Direktor Sabrow für wenig plausibel. Gleichwohl vermutet er in der damaligen SED-Führungsriege eine starke innere Gelähmtheit. Scheinbar fand niemand mehr die Kraft für unkonventionelle Entscheidungen – sei es in der Wirtschaft oder auch in der Absprache mit „Bruderstaaten“ im Ostblock. In gleicher Weise habe, so Prof. Sabrow, offenbar auch die Entscheidungskraft für einen massiven Einsatz von Gewalt gefehlt. Jedenfalls ab dem 9. Oktober 1989.
Eine gewaltlose Linie schien aber auch für die Aufsteiger im SED-Apparat – vor allem Krenz, Schabowski und Modrow – unverzichtbar zu werden. Sie ahnten wohl, dass mit dem Ausbruch eines Bürgerkrieges alles verloren gewesen wäre, einschließlich ihres eigenen Aufstiegs. Krenz, als Nachfolger von Honecker nur ein paar Wochen im Amt, hielt sich an den Konsens, keine Schusswaffenanwendung zu erlauben, auch und gerade nicht (mehr) an der Berliner Mauer. Modrow, ab Ende 1989 als letzter SED-Premier im Amt, sammelte Punkte mit Zurückhaltung und Vermittlungsbemühungen, als das aufgebrachte Volk am 15. Januar 1990 die Berliner Stasi-Zentrale in der Normannenstraße stürmte. Kein Zweifel, noch immer war die Gefahr eines Bürgerkrieges nicht restlos abgewendet.
Doch nach soviel „Friedfertigkeit“ der Genossen – für die sich manche selbstverständlich auch in ihren Memoiren rühmen –, war es dann an der Zeit, die konstruktiv-vermittelnde Rolle der Kirchen in den kritischsten Momenten in Leipzig, Dresden und anderswo anzusprechen. In Sabrows Augen erwarben die Kirchen damals aber nicht nur das Vertrauen aller Seiten und weckten Hoffnung auf einen gemeinsamen Dialog, sondern „boten auch Rituale der Befreiung, entwickelten eine zivilisierende Kraft.“
Erkennbar wird so ein Puzzle von Faktoren und Entwicklungslinien, die in der Gesamtsumme den Gewaltausbruch in Ostdeutschland – und damit mögliche verheerende Auswirkungen von globaler Dimension – verhinderten. Dennoch, es bleiben weiße Flecken. Ob und wie die paralysierte SED-Spitze sich im Sinne einer „Risikokalkulation“ auch von anderen Machtzentren beraten ließ – wie etwa den Führungskräften der NVA, des Innenministeriums, der Polizei und der Staatssicherheit –, ist bis heute nicht völlig geklärt. Auch 20 Jahre nach den dramatischen Ereignissen geht die Arbeit an den Hintergründen weiter.
Nächste Ringvorlesung: 5. November, Prof. Manfred Görtemaker (Universität Potsdam), „Die Politik Bonns zwischen Krisenmanagement und Risikoabschätzung“, 19 Uhr, Am Neuen Markt 9d.
Olaf Glöckner
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