Landeshauptstadt: Gefangen im Hörsaal
15 HFF-Studenten drehen als Abschlussfilm ein Amoklauf-Drama – ein Besuch am Set in Babelsberg
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Drei Polizeiautos, ein Krankenwagen, zwei Laster des technischen Hilfswerks stehen vor dem Eingang des Hauptgebäudes der Uni Potsdam in Griebnitzsee. Polizisten sprechen in ihre Funkgeräte, Einsatzkräfte beruhigen Studenten, etwas abseits steht ein Polizist des Sondereinsatzkommandos in schwarzer Kluft. Was ist hier geschehen?
Ein Amoklauf zweier Studenten – zum Glück nur im Film. Es laufen die Dreharbeiten zu „Totale Stille“, dem Abschlussprojekt von 15 Studenten der Babelsberger Hochschule für Film und Fernsehen (HFF). Der Spielfilm, an dem die Studenten seit zwei Jahren arbeiten, behandelt ein schwieriges Thema: An einer fiktiven deutschen Uni schießen plötzlich zwei Amokläufer um sich. Nicht alle Dozenten und Studenten schaffen es zu entkommen. Sie verschanzen sich in Hörsälen und Büros, bis der Horror vorbei ist.
„Die Amokläufer stehen dabei nicht im Vordergrund“, betont der 24-jährige Produzent Eike Adler, „der Hauptteil des Films dreht sich um die Eingeschlossenen und was sie während dieser Zeit erleben.“ Das fiktive Geschehen dauert zwei bis drei Stunden, der Film zeigt die Handlung also fast in Echtzeit. „Wir wollen wirklich tief in die Figuren reingehen und eine Art Generationenporträt zeichnen“, sagt Adler. Die Charaktere sind mit Leistungsdruck und Zeitknappheit konfrontiert. Dabei hätten die Filmemacher auch die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen im Hinterkopf gehabt, sagt Adler: „Wir müssen viel leisten und dürfen wenig schwächeln, alle Sorgen werden unterdrückt. So etwas kann sich irgendwann auch in Gewalt lösen.“
Zu sehen sein soll „Totale Stille“ später in Arthouse-Kinos, vielleicht aber auch in größeren Häusern. „Einen Veröffentlichungstermin haben wir noch nicht, aber der Farbfilm-Verleih hat schon Interesse gezeigt“, sagt Adler. Der Film ist eine reine HFF-Produktion.
Das Treiben am Drehort ist geschäftig, aber nicht chaotisch: „Die Polizeiuniformen kommen gleich“, spricht ein Set-Arbeiter mit beruhigender Stimme in sein Walkie-Talkie. Regisseurin Zarah Ziadi geht zwischen den Kulissen herum und schließt sich mit Schauspielern und Technikern kurz. Sie wirkt entspannt. „Es läuft erstaunlich gut“, meint die 33-Jährige, „ich habe mit größeren Katastrophen gerechnet. Aber es ist ja noch Zeit“, scherzt sie. Über die Hälfte aller Szenen werden in Griebnitzsee gedreht, einige in Golm und die restlichen an verschiedenen Locations in Potsdam.
Das Drehbuch stammt von HFF-Professor Jens Becker, der sich seit 2002 mit dem Thema Amokläufe beschäftigt. Nach dem Amoklauf von Erfurt 2002 verbrachte der 49-jährige Dramaturg ein Jahr am Johann-Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, drehte zwei Dokumentarfilme über das Ereignis und veröffentlichte das Buch „Kurzschluss“. Besonders beeindruckt zeigte er sich dabei von den Berichten der Überlebenden, die sehr verschieden mit ihrer Situation umgegangen seien: „Eine Schülerin hatte zum Beispiel gerade ihre Physik-Prüfung geschrieben, als der Amoklauf losging. Um sich abzulenken, schrieb sie einfach weiter – sie hätte sogar bestanden.“ Viele der Überlebenden hätten sich angesichts der Todesgefahr gefragt, an welchem Punkt sie im Leben eigentlich stünden, so Becker: „Sie sind dem Tod quasi von der Schippe gesprungen; da ist vielen klar geworden, wie kostbar das Leben eigentlich ist.“ Das Erlebte habe viele der Betroffenen verändert. „Ein Lehrer hat sich eine Harley Davidson gekauft und sich überschuldet. Andere haben lang aufgeschobene Entscheidungen getroffen, eine Frau beispielsweise ließ sich scheiden.“
Viele dieser Berichte standen Pate beim Verfassen des Drehbuchs, das neun Charaktere und ihre Beziehungen zueinander spiegeln soll. Eine von ihnen ist die 26-jährige Alexandra Saldow, die die Jurastudentin Ronja spielt: „Sie ist ziemlich anders als ich, eher scheu und ängstlich“, erzählt sie über ihre Rolle. „Sie ist mit einem Professor eingeschlossen, mit dem sie ein Verhältnis hat. Als er herausbekommt, dass sie mal in einen der Amokläufer verliebt war, soll sie mit ihm reden.“ Der 24-jährige Felix Freese spielt Ronjas Bruder, der Polizist ist und versucht, sich einen Weg in das Gebäude zu bahnen. „Ich wusste ziemlich wenig über Polizisten und habe mich gefragt, wie das ist“, sagt Freese. „Deshalb habe ich ein dreitägiges Praktikum bei der Polizei gemacht, wo ich auch bei einem Amoklauf-Seminar war, bei dem in einem leeren Gebäude der Ernstfall simuliert wurde.“
Obwohl der Samstag der 14. von 28 Drehtagen ist, wird gerade die Schlussszene gedreht: Einer der Amokläufer ist tot, der andere verletzt, Polizisten führen die Überlebenden aus der Uni. „Ihr geht ungefähr bis hier und dann an den Autos vorbei“, weist eine Studentin die Schauspieler an. Da die Sonne zu hell scheint, muss eine große Stoff-Blende hinter der Kamera in Stellung gebracht werden.
Etwas abseits steht ein Polizist aus Brandenburg, der anonym bleiben möchte und der aus privatem Interesse dort ist. Er sei damals selbst in Erfurt gewesen, kurz nachdem der Amoklauf vorbei gewesen sei: „Wir konnten da nichts mehr machen, ich habe nur noch die traumatisierten Kollegen gesehen, die vom Einsatzort zurückkamen.“ Es ist eine ganz ähnliche Szene, die sie sich gerade vor den Kameras abspielt: Die Studenten und Dozenten laufen langsam aus der Uni, Hilfskräfte führen sie zu einem weißen Notfall-Zelt.
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