PYAnissimo: Gemütlich im Tunnelblick
Mein Potsdamer Lieblingskunstwerk steht auf der Humboldtbrücke. Ich komme beinahe täglich zwei Mal daran vorbei, meistens sitze ich dabei bequem in der Tram.
Stand:
Mein Potsdamer Lieblingskunstwerk steht auf der Humboldtbrücke. Ich komme beinahe täglich zwei Mal daran vorbei, meistens sitze ich dabei bequem in der Tram. Dann schaue ich rüber zu dem armen Kerl, der sich am Fuße der Brücke mit den komischen Gebilden plagt und nicht vorwärts kommt. Wenn ich im Auto sitze, was eher selten der Fall ist, habe ich, jedenfalls Richtung Innenstadt, richtig viel Zeit zur Kunstbetrachtung. Von der linken Spur geht’s am besten. Ein paar Ampelphasen lang leidet man mit ihm. Der Mann steht gekrümmt über einem komischen Gefährt, das er unbedingt bewegen will. Aber die seitlichen Auswüchse sind wie sperrige, nutzlose Gliedmaßen. Sie könnten rollen, aber das tun sie nicht. Sie verkeilen sich und blockieren sich selbst. Und der Mann darin müht sich ab, schiebt und schiebt.
Er steht schon seit 2002 dort, eine Plastik der chilenischen Künstlerin Alejandra Ruddoff. „Nach vorn“ heißt das Ding und sollte seinerzeit chilenisches Vorwärtsdrängen darstellen. Fortschritt. Revolution. Der Mittelstreifen-Platz auf Potsdams meist befahrener Straße hat an dieser Stelle sogar einen Namen, der an Chile erinnern soll – nur dass er mir nicht einfällt. Auch zwei chilenische Bäumchen hat man seinerzeit dort gepflanzt.
Dann kamen Verkehr, Feinstaub, eine Brückensanierung. Viel Wetter und noch mehr Verkehr. Und einmal wurde der Kopf der Plastik sogar geklaut, schließlich aber doch wiedergefunden. Der Mann steht immer noch da, er hat ein paar oberflächliche Abplatzungen und zu seinen Füßen wächst Gras, aber er gibt nicht auf. Er will, so scheint es mir, diesen Karren aus dem Dreck ziehen.
Der Mann hätte das Zeug für Potsdams Stadtwappen. Als ewiger Optimist. Als unbeirrbarer Vorwärtsdränger. Als geduldiger Staubezwinger. Dafür ist er mein Held. Er tut mir aber auch ein bisschen leid. Er kann da einfach nicht weg – nicht mal ein schöner Blick Richtung Himmel oder hinüber zum grünen Havelufer ist ihm vergönnt. Er hat diesen Potsdamer Tunnelblick entwickelt, der ihn weder nach rechts noch links sehen lässt. Er hat ein Ziel und da will er hin. Ob er sich dabei bewegt und was hinter und neben ihm passiert, was er da niederwalzt – das scheint ihm egal. In seinem Vorwärtsdrang ist er sehr konsequent. Ein Potsdamer Dickschädel.
Ich finde, man muss für dieses so passende Kunstwerk das Kulturamt der Stadt mal nachträglich loben. All die abstrakten Skulpturen und Installationen des Walk of Modern Art – geschenkt. Hier, an einer der größten Kreuzungen der Stadt, steht die wahre Potsdamer Dramaturgie. Die Freiheitsstatue aller Extrempositionierer. Der Auto- oder Radfahrer, der Stadtplaner, der Kirchenwiederaufbauer, der Hotelabreißer, der Uferwegsanhänger und der Biosphärenbewahrer. All jener, die an Meinungen festhalten, auch wenn man schon durch handbreite Löcher im Dach den Bornstedter Himmel sehen kann. Ein bisschen passt sie damit auch zum Lutherjahr: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Was ja derzeit auch das Motto aller Autofahrer durch die Nedlitzer Straße ist. Vielleicht ist so ein Stau nur Interpretationssache. Mit Luther betrachtet und dabei immer den armen Chilenen vor Augen, wird Stillstand vielleicht sogar richtig gemütlich.
Unsere Autorin ist freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Babelsberg
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: