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Steffi Pyanoe.

© A. Klaer

PYAnissimo: Genießen Sie diese ganzheitliche Kolumne

Kürzlich hatte ich die Freude, einen Ankündigungstext für die Erlebnisnacht zu schreiben. Ich kann mit Stolz sagen: Es ist mir gelungen, ohne auch nur einmal das Wort „genießen“ zu verwenden.

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Kürzlich hatte ich die Freude, einen Ankündigungstext für die Erlebnisnacht zu schreiben. Ich kann mit Stolz sagen: Es ist mir gelungen, ohne auch nur einmal das Wort „genießen“ zu verwenden. Des Weiteren verzichtete ich auf die beliebten Wortkombis „leibliches Wohl“, „kulinarisch verwöhnen“ und „ganzheitlicher Sonnenuntergang“. Ich hoffe, Sie hatten dennoch eine schöne Nacht.

Ich schreibe hiermit den Pyanissimo-Preis aus für den ersten Promotext, der besagt, dass man hier oder da einen Kaffee trinken kann. Einfach so. Ob der Kaffeetrinker dabei einen Anfall von Genusssucht erleidet, das werden wir ja sehen. Es scheint derzeit jedenfalls unmöglich, etwas zu sich zu nehmen, ohne regelrecht zum Genuss verdonnert zu werden. Weil man dabei auf einer Terrasse sitzt und also der Stuhl unterm Hintern inklusiver frische Brise daherkommt? Weil sich historisches Gedöns oder eine Ansammlung von Wassermengen, ein See, ein Fluss, im Sichtfeld befindet? Über das sich zu gegebener Zeit die Strahlen unseres untergehenden Zentralgestirns im Wassergehalt der Atmosphäre brechen? Oder weil das, was ich zu verzehren gedenke, höchst frisch und regional, ganzheitlich und unter allerbester Achtsamkeit geerntet und zubereitet wurde?

Wir wollen umgarnt werden

Wann bitte trat diese Worthülserei auf den Plan? Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals meine Oma gesagt hätte: Ihr Lieben, bitte schön, genießt diesen frischen Apfelkuchen nach traditionellem Rezept, aus regionalen Sorten und nachhaltigem Anbau, schonend verarbeitet, mit handgerollten Butterstreuseln und von unserer mit EU-Fördermitteln finanzierten finnischen Praktikantin CO2-neutral von Hand aufgeschlagener Biosahne. Dazu empfehle ich unseren frisch gebrühten Kaffee (Betonung auf dem E) oder eine heiße Fair-Trade-Schokolade. Niemals! Dass der Kuchen frisch war, wussten wir, weil die ganze Küche danach duftete. Und alles andere war einfach nicht der Rede wert. Nachhaltig war es trotzdem. Denn ich habe ihren Apfelkuchen bis heute nicht vergessen, und beim Kuchenbasar in der Schule war er immer als Erstes weg.

Aber es klingt so schön. So wichtig. So beeindruckend. Wir wollen umgarnt werden mit Sonderangeboten, alles extra groß, extra frisch und extra genussversprechend. Kein Speis und Trank ohne Erlebnis. Handgeschmiedet in einer Genussmanufaktur und verschnürt zu einem Genusspaket. Nun gut, vielleicht muss man auch mal das Selbstverständliche betonen. Potsdam jedenfalls ist die Genusshauptstadt. Die Suchmaschinen bieten Hunderttausende Optionen zum Stichwort: Man kann Natur und Erholung genießen, Service, Feinkost und Zigarren, neue Zahnarztöffnungszeiten, den Frühling, die herbstliche Stille, den Ruhestand und sogar das Leben an sich, wahlweise ganz bewusst oder mit allen Sinnen, königlich oder zeitlos. Wunderbar. Die Stadt muss voll sein mit verzückten, blind vor Genuss vor sich hin taumelnden oder in sich gekehrten Genussmenschen. Ich prophezeie: in Kürze werden wir uns eine Genusskönigin wählen, die dann Seite an Seite mit der Spargel- und Blütenkönigin unsere ganze Pracht ganzheitlich vermarktet. Ich gehe jetzt einen Kaffee trinken. Wenn man das noch so sagen darf. Vielleicht ziehe ich ihn schnöde am Automaten. Zur richtigen Zeit ist das sogar ein Genuss.

Unsere Autorin ist freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Babelsberg.

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