zum Hauptinhalt
Ladenhüter Gesamtschule? Die Schulstruktur in Potsdam wird neu sortiert. Mit dem Schulentwicklungsplan haben die Stadtverordneten Gymnasien gestärkt und Gesamtschulen reduziert. Schulleiter und Schulrat warnen davor, weil Eltern Gesamtschulen wünschen.

© dpa

Landeshauptstadt: Gesamtschule – beliebtes Auslaufmodell

In Potsdam werden Gesamtschulplätze knapp, daher will der erste Träger eine private Gesamtschule eröffnen

Stand:

Die Anmeldezahlen sprechen eine deutliche Sprache: Die Landeshauptstadt bietet weniger Gesamtschulplätze als von Eltern und Schülern gewünscht. Seit Monaten weist Schulrat Wolfgang Bogel-Meyhöfer darauf hin, dass es vor dem nächsten Schuljahr ein Chaos geben könnte. Denn nur noch an drei Gesamtschulen werden im August neue siebte Klassen eröffnet – viel zu wenig, wenn sich auch in diesem Jahr wieder so viele Eltern und Schüler für eine Gesamtschule entscheiden. Hunderten Schülern droht die Ablehnung an der gewünschten Schule und der Zwang, eine Oberschule zu besuchen. Dabei schwören die Schulleiter der verbliebenen Gesamtschulen auf die Schulform – jetzt will selbst ein privater Schulträger den Markt für sich entdecken und erobern.

Jeden Tag sitzen Eltern und Schüler im Büro von Ingo Müller und informieren sich über die Gesamtschule im Zentrum-Ost. Müller ist Schulleiter der Lenné-Gesamtschule und Verfechter dieser Schulform. Erst hat das Land mit der Schulgesetznovelle die Gesamtschulen ohne gymnasialer Oberstufe abgeschafft. Zuletzt haben die Stadtverordneten mit dem Schulentwicklungsplan – gegen den Rat des Schulrates – eine weitere Gesamtschule geschlossen. Dabei werde die Schulform immer wichtiger, sagt Müller. Als städtische Schulplaner laut überlegten, seine Schule in ein Gymnasium umzuwandeln, hat er abgelehnt. Weil er davon überzeugt ist, dass die Gesamtschule die bessere Schulform ist. Gerade jetzt, nachdem die Zeit zum Abitur verkürzt worden ist und Schüler auch in Brandenburg nach zwölf Jahren ihr Abitur ablegen sollen. Da bietet die Gesamtschule eine Alternative, sagt Müller. „Die Schüler brauchen auch Luft zum Atmen“, sie sollten ein Leben neben der Schule haben, fordert er. An Gesamtschulen haben sie 13 Jahren bis zum Abitur, an Gymnasien zwölf.

Die Gesamtschule biete mehr Schülern die Möglichkeit auf ein Abitur, sagt er. Dabei hatte die Lenné-Schule selbst am Schulversuch „6 + 6“ teilgenommen, bei dem die Schüler nach zwölf Jahren das Abitur erlangten. Jetzt ist es beendet. Müllers Fazit: Ein Drittel der Schüler haben das Abi locker geschafft, ein Drittel mit Schwierigkeiten und ein Drittel erst nach einer Extrarunde. Für die letzteren zwei Drittel seien 13 Jahre bis zum Abitur der bessere Weg, bewertet der Schulleiter die Erfahrungen der Praxis. Daher sieht er die Schulstruktur in der Landeshauptstadt mit gemischten Gefühlen. 50 Prozent Gesamtschulplätze und 50 Prozent Gymnasienplätze würde er lieber sehen – ab dem kommenden Sommer heißt das Verhältnis fünf städtische Gymnasien zu drei Gesamtschulen. Inklusive der freien Schulen lautet es sogar 9:4 zugunsten der Gymnasien.

Immer öfter schütteln Schulleiter wie auch Bildungsexperten den Kopf über die Entwicklung in Potsdam. Das hat auch ein privater Schulträger gesehen. „Die Schüler werden nicht auf eine Leistungsstufe nach der Grundschule festgelegt“, sieht Heike Dietzel als Vorteil der Schulform. Sie ist Geschäftsführerin des privaten Schulträgers „Internationale Schulen Potsdam gGmbH“. Eine Grundschule betreibt die gemeinnützige Gesellschaft bereits, nun soll eine Erweiterung am Standort in den Ravensbergen folgen. Es wäre die erste private Gesamtschule in Potsdam. Weil sie demokratischer und offener sei, begründet Dietzel den Willen zur Gesamtschul-Gründung. Es sei eben eine Schule für alle.

Das betonen auch die Schulleiter der Voltaire-Gesamtschule in der Innenstadt sowie der Steuben-Gesamtschule im Kirchsteigfeld. Eine Schule für alle zu sein erklärt auch Ortrud Meyhöfer von der Voltaire-Schule immer. Sie versteht Gesamtschule als Einrichtung, an der alle Formen des Abschlusses angeboten werden. Daher ist die Voltaire-Schule die einzige Gesamtschule des Landes, in der es eine Leistungs- und Begabungsklasse gibt. Und in der es künftig das Abitur nach zwölf wie auch nach 13 Jahren geben könnte.

Gesamtschulen haben aber auch mit Gegenwind zu kämpfen. So haben sich im Jahr 1994 Lehrer im Verein „Arbeitskreis Gesamtschule“ zusammengeschlossen, um gegen Gesamtschulen zu kämpfen. Sie halten die integrierte Gesamtschule „in Deutschland unter den hier gegebenen Bedingungen nach wie vor für ein nicht zu haltendes Versprechen und für eine pädagogische Fehlkonstruktion“. Die Mitglieder verweisen dabei auf Forschungsprojekte des Max-Planck-Institutes für Bildungsforschung: In drei Forschungsprojekten sei herausgefunden worden, dass leistungsstärkere Schüler, „zumindest in Deutschland“, an Realschulen und Gymnasien durch die mit dem 5. Jahrgang einsetzende frühe Differenzierung in getrennten Schulformen eine deutlich bessere Förderung erfahren als an Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen und Sekundarschulen aller Art. Auch Politiker von CDU und FDP argumentieren gerne damit, dass gemeinsames Lernen den unterschiedlich begabten Schülern nicht gerecht werde. Schwächere Schüler würden die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, stärke Schüler nicht genug gefördert.

Ingo Müller kennt diese Argumente. Es dürfe nicht angenommen werden, dass an Gymnasien alle Schüler gleich begabt sind, antwortet er darauf. Es gebe an keiner Schule homogene Lerngruppen. Daher sei die Gesamtschule bei der Förderung von verschiedenen Leistungsstärken im Klassenverband im Vorteil. Denn die Ausstattung mit Lehrerzuweisungen ist an Gesamtschulen höher. Die Lehrer haben (theoretisch) mehr Zeit, Schüler individuell zu fördern. Das Bildungsministerium wirbt für die Gesamtschule mit folgenden Worten: Durch die differenzierten Leistungsstufen „kommt es weder zu Über- noch zu Unterforderungen“.

Um diesen Leitsatz mit Leben zu füllen nehmen mehrere Schulen in Potsdam an einem besonderen Programm teil: Reformzeit an Schulen heißt es, beteiligt sind unter anderem die Lenné-Gesamtschule, die Sportschule Potsdam sowie die Coubertin-Oberschule. Binnendifferenziertes Lernen heißt die Zauberformel, die Förderung aller Leistungsstufen innerhalb einer Klasse. Müller glaubt, damit auf dem richtigen Weg zu sein. Und er ist überzeugt, dass es auch in zehn Jahren noch Gesamtschulen in Potsdam gibt. Der Bedarf sei da – das zeigen die Anmeldungen an den Schulen. Jan Brunzlow

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })