
© A. Klaer
Landeshauptstadt: „Geschichte ist ein Denkfach“
Podiumsdiskussion zur Rolle der Zeitzeugen / Historiker Kenkmann: DDR-Zeit ist „überforscht“
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Nauener Vorstadt - Die Diskussion in der Aula der Evangelischen Grundschule hätte bis Mitternacht weitergehen können – dabei waren sich alle im Podium einig: In Gedenkorten wie etwa der nahen Gedenkstätte Leistikowstraße 1 dürfe nicht versucht werden, Besucher emotional zu überwältigen. Dieses „Überwältigungsverbot“, festgeschrieben für deutsche Gedenkstätten-Betreiber im so genannten „Beutelsbacher Konsens“, habe weiterhin Bestand, fasste Prof. Günter Morsch, Direktor der Brandenburgischen Gedenkstätten-Stiftung, die Ergebnisse der Podiumsdiskussion im Rahmen des 9. Berlin-Brandenburgischen Forums für zeitgeschichtliche Bildung zusammen.
Organisiert wurde das Forum durch die Gedenkstätte Leistikowstraße und deren Leiterin Ines Reich. Insbesondere der Historikerin Reich war im Zuge der Vorbereitung und Eröffnung der neuen Dauerausstellung für das ehemalige sowjetische Geheimdienstgefängnis vorgeworfen worden, der Emotionalität von Zeitzeugen zu wenig Raum zu lassen und die nüchterne Darstellung der Organisationsstrukturen der russischen Geheimdienste in den Vordergrund zu stellen. Es gab Proteste und Mahnwachen, die auch persönlich gegen Ines Reich gerichtet waren.
„Was da passiert ist, war nicht richtig“, erklärte sich Prof. Rainer Eckert, Direktor des zeithistorischen Forums Leipzig, solidarisch mit seiner Potsdamer Kollegin. Mit der Eröffnung der Gedenkstätte sei ein wichtiger Schritt getan worden. Eckert, aber auch der Professor für Geschichtsdidaktik an der Universität Leipzig, Alfons Kenkmann, würdigten die Rolle von Zeitzeugen bei der Vermittlung von Geschichte. Kenkmann heizte die Debatte jedoch an mit dem Verlesen des Berichts einer thüringischen Studentin, die in der Gedenkstätte Hohenschönhausen von einem Zeitzeugen hörte, wie die festgebundenen Gefangenen gefoltert wurden, in dem ihnen in regelmäßigen Abständen Wassertropfen auf die Stirn fallen gelassen wurden. Wieder heimgekehrt nach Thüringen, hätte diese Studentin ihre Eltern attackiert, warum diese sich mit dem DDR-System eingelassen hätten. Die Mutter war Grundschullehrerin, so Kenkmann. Der „Vorwurfsduktus“ habe überwogen, ein „intergeneratives Gespräch“ sei aufgrund der emotionalen Überwältigung durch den Zeitzeugen nicht zustande gekommen. Dabei sei „Geschichte ein Denkfach“, sagte Kenkmann. Emotionen könnten lediglich Zugänge zur Geschichte schaffen.
Die DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld (CDU), die im Publikum saß, widersprach dem Bericht der Studentin. Die „Tropfenfolter“ sei nicht von der Stasi, sondern „von den Sowjets“ angewendet worden. Die Studentin habe etwas durcheinander gebracht, das sei kein Beweis gegen die positive Wirkung von Zeitzeugen. Kenkmann konterte: „Die Studentin ist Zeitzeugin der Zeitzeugen-Führung, wie Sie Zeitzeugin der DDR-Diktatur sind – ich muss ihr schon glauben.“ Dieter Dombrowski, Generalsekretär der brandenburgischen CDU und als ehemaliger Stasi- Häftling selbst Zeitzeuge, versuchte zu vermitteln: Das Beispiel könne nicht bedeuten, „keine Zeitzeugen mehr auf Schüler loszulassen“. Eltern müssten sich fragen lassen, was sie früher gemacht haben. Dombrowski: „Man hat sich im Diktaturraum bewegt und war nicht zum Heldentum verpflichtet, aber man ist verpflichtet, seine Kinder zu informieren.“
Oberthema der Diskussion war die Frage, was aus der Aufarbeitung des Nationalsozialismus für die Aufarbeitung der SED-Diktatur zu lernen sei. Einig waren sich die Diskutanten, dass es nach 1990 zu weit weniger Aufarbeitungsversäumnissen kam als nach 1945. Die Berliner Bündnisgrüne Alice Stöver erinnerte daran, dass die zubetonierten Gestapo-Keller jahrzehntelang Fahrschülern als Übungsgelände dienten, Westberlinern bekannt als „Harrys Autodrom“. Erst die „nachfragenden Bürger“ der 68er-Generation hätten die Geschichtsverdrängung aufgebrochen. Dazu Kenkmann: Die NS–Zeit in Ostdeutschland sei noch völlig unerforscht, „überforscht“ sei dagegen die DDR-Geschichte, auf die sich nach 1990 alle Zeithistoriker gestürzt hätten.
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