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Landeshauptstadt: Gleichgewicht des Schreckens

„Shared Space“ kommt frühestens in fünf Jahren

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Zwei schillernde Worte geistern seit längerem durch das brandenburgische Verkehrsministerium: „Shared Space“, ein Verkehrskonzept, das auch in Potsdam umgesetzt werden soll. Mit Science Fiction hat das nichts zu tun, auch wenn die Idee erst mal utopisch klingt: Entfernung von Bordsteinkanten, Abbau von Ampeln und Rodung des Schilderwaldes, kurz, die Aufhebung getrennter Straßenräume für alle Verkehrsteilnehmer. Gleichberechtigtes Teilen des Straßenlandes, lautet das Motto.

Funktionieren soll das, indem sich keiner mehr auf die (oft trügerische) Sicherheit durch Verkehrsschilder oder Fahrbahnbegrenzungen verlassen soll. Stattdessen wird vieles durch Blickkontakt und gegenseitige Rücksicht geregelt, jeder ist zum Aufpassen gezwungen. Es ist quasi eine Art Gleichgewicht des Schreckens, das durch die bewusst herbeigeführte Gefahrensituation geschaffen wird – und es soll sogar funktionieren: Ein Testprojekt auf der Kensington High Street in London konnte nach zwei Jahren einen Unfallrückgang um 44 Prozent verbuchen. Aber wird durch die Verlangsamung Autofahren nicht zeitintensiver oder gar staulastiger? Eher im Gegenteil, sagen Befürworter: Auf anderen Testflächen in Europa habe sich gezeigt, dass der Verkehr trotz geringeren Tempos wesentlich flüssiger läuft, weil durch Ampeln bedingtes „Stop & Go“ verhindert wird. Besonders das spürbare Absinken des Lärmpegels sei bei allen Pilotprojekten positiv registriert worden. Kontinuierliches statt abgehaktes Fahren soll zudem den Schadstoffausstoß reduzieren.

Trotzdem: „Nach der derzeitigen Haushaltslage ist mit einer Umsetzung von Shared Space in Potsdam in den nächsten fünf Jahren nicht zu rechnen“, sagte Torsten von Einem vom Fachbereich Stadtplanung. 2008 hatte das brandenburgische Ministerium für Infrastruktur die Städte Calau, Luckenwalde und Potsdam für mögliche Pilotflächen auserkoren. Tatsächlich hat die Stadtverwaltung Potsdam im Mai 2009 nach Abschluss einer Studie festgestellt, „dass die Machbarkeitsuntersuchung für den Kreuzungsbereich Paul-Neumann-Straße / Pestalozzistraße / Rosenstraße / Althoffstraße in Babelsberg eine deutliche Erhöhung der Aufenthaltsqualität und Nutzbarkeit durch eine Umgestaltung nach dem Shared Space-Ansatz belegt.“ Noch harrt das Pilotprojekt aber seiner Umsetzung, denn: „Andere Bauvorhaben haben mehr Priorität, zum Beispiel der Umbau der Humboldtbrücke oder die zahlreichen Baumaßnahmen in der Potsdamer Mitte“, so von Einem.

Und es gibt weiter offene Fragen: Blinde und Sehbehinderte kritisierten, dass mit der Bordsteinkante eine wichtige Orientierungshilfe wegfalle. Außerdem könne einer der Grundpfeiler des „Shared Space“, nämlich der Augenkontakt, von Blinden und Sehbehinderten nicht vollzogen werden. Hier sieht das Konzept zwar drei Zentimeter hohe Bürgersteige und ein Blindenleitsystem durch markant strukturierte Flächen auf dem Boden vor, aber solange das Testprojekt nicht umgesetzt wird, bleibt das mögliche Gelingen von „Shared Space“ in Potsdam reine Spekulation. Erik Wenk

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