Von Henri Kramer: Grobe Verletzung von Sorgfaltspflichten
Nach dem Urteil im Tram-Prozess droht Verkehrsbetrieb Schadenersatzklage von der Mutter des Toten
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Die Worte klangen stockend, die Stimme von Ralf K. brach sich, als würden bald Tränen folgen: Er könne sich den Unfall nicht erklären, der im Juli vergangenen Jahres zum Tod des 17-jährigen Marc- Phillip G. geführt hatte. „Es tut mir leid“, sagte der 47 Jahre alte Mann, nachdem sein Verteidiger Karsten Beckmann zuvor einen Freispruch für den Familienvater gefordert hatte.
Ohne Erfolg. Amtsrichterin Constanze Rammoser-Bode verurteilte Ralf K. gestern im Verhandlungssaal 20 des neuen Justizzentrums in der Jägerallee zu fünf Monaten auf Bewährung, weil er einen Teil seiner Sorgfaltspflichten als Straßenbahnfahrer „grob“ verletzt habe – etwa weil der Blick in den Rückspiegel fehlte. Staatsanwalt Peter Petersen hatte sogar ein Jahr Haft auf Bewährung gefordert und von einer „Amokfahrt“ gesprochen, deren Motive in „Faulheit, Trägheit und Desinteresse“ zu suchen seien: Seiner Auffassung nach habe der Fahrer den Nothebel umgelegt, um schneller fortzukommen. Der Nebenklage-Anwalt der Mutter des Opfers verlangte wegen „rücksichtlosen Fahrens“ zwei Jahre und sechs Monate – ohne Bewährung.
Auch wegen des eindeutigen Urteilsbegründung der Richterin spielte gestern ein Aspekt des Falles kaum mehr eine Rolle: Wie stark der 17 Jahre alte Junge zum Zeitpunkt seines Todes betrunken war. In der Nacht zum 14. Juli 2007 hatte Marc-Phillip G. bei der Feuerwerkersinfonie gefeiert. Später ergab eine Obduktion 1,77 Promille Alkohol und eine niedrige Cannabis-Konzentration in seinem Blut. An der Haltestelle Campus Fachhochschule warteten Marc-Phillip G. und seine Freunde schließlich auf die Bahn – die laut der Richterin genau in dem Moment mit noch offenen Türen anfuhr, als der 17-jährige Potsdamer sie gerade betreten wollte.
Dann habe Marc-Phillip G. „unvernünftig“ gehandelt: Er sei hinter dem ersten Wagen der Tatra hergerannt, um noch in die Tür der Bahn zu springen, stellte Richterin Rammoser-Bode ihre Sicht nach drei Verhandlungstagen dar. Deswegen habe auch der Junge einen Anteil am Geschehen – aber der Angeklagte noch mehr. Denn gerade nach einem großen Volksfest müsse ein Berufsfahrer mit betrunkenen Jugendlichen rechnen und „extra sorgfältig“ sein. Ralf K. in weißem Hemd verfolgte die Urteilsbegründung aufmerksam, nur die Finger seiner Hände drehten sich unruhig.
Jenseits seines persönlichen Leids als derzeit arbeitsunfähiger Straßenbahnfahrer, der damit leben muss, einen Jugendlichen totgefahren zu haben, rückte gestern eine mögliche Schuld des Potsdamer Verkehrsbetriebs in den Mittelpunkt. Denn ein ermittelnder Verkehrsexperte bestätigte, was zuvor schon kurz nach Beginn der Ermittlungen durchgesickert war: Der Türnotschalter, mit dem sich die Sicherheitsautomatik der Türen ausschalten lässt, war nicht wie üblich mit einer festen Plastikplombe sondern nur mit einer Schnur gesichert, die so lang war, dass der Hebel auf dem Fahrerpult einfach hin- und her geschaltet werden konnte. Ebenso sei die Nutzung dieser Türnotschalter nicht in den schriftlichen Belehrungen für Fahrer enthalten, erklärt der Experte: „Ich habe nichts dazu gefunden.“
Kurz nach dem Urteil kündigte Jörn Lassan als Anwalt der Mutter von Marc-Phillip G. an, mögliche Schadensersatzansprüche gegen den ViP zu prüfen. Zudem habe das kommunale Unternehmen nach seiner Darstellung erst ein Drittel der Beerdigungskosten für Marc-Phillip G. gezahlt. Einen Anspruch darauf sieht Verkehrsbetriebe-Chef Martin Weis offenbar nicht: Auf Anfrage der PNN sagte er gestern: „Der Verkehrsbetrieb ist nicht der Beklagte.“
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