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Landeshauptstadt: Grüße von Ruth

Zwei Potsdamerinnen fuhren mit dem „Zug der Erinnerung“ nach Auschwitz

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Der Raum ist abgedunkelt. Hinter einer Vitrine liegen Berge von Haar. Tonnenweise Menschenhaar, auch kleine Zöpfe erkennen Josefine Markarian und Nele Pröpper. Kaum fassbar, was die beiden Schülerinnen der Voltaire-Gesamtschule dann von ihrer polnischen Führerin hören: Die Haare, die den Lagerinsassen in Auschwitz vom Kopf geschnitten wurden, waren eine Ware: Die Betreiber des einstigen Todeslagers verkauften sie zum Kilopreis an Textilfabriken. Matratzenfüllungen, Decken, Segeltaue entstanden daraus. Die Haarberge werden Nele im Gedächtnis bleiben. „Es war ziemlich an der Grenze“, sagt die 14-Jährige heute. Anfang Mai reiste sie mit ihrer Klassenkameradin Josefine mit dem „Zug der Erinnerung“ nach Auschwitz.

„Es gab so viele Eindrücke“, berichtet Nele. „Ein totaler Schock eigentlich“, fasst Josefine zusammen. Die beiden Achtklässlerinnen waren Teil einer Gruppe von etwa 60 Schülern und 20 Betreuern aus ganz Deutschland, die den Zug – ein Gedenkprojekt für die von den Nazis deportierten Kinder – von Görlitz nach Auschwitz begleiteten.

Angefangen hatte alles mit dem Besuch des Zuges Ende April auf dem Potsdamer Hauptbahnhof. Dort hatte Nele öffentlich über einen Deportierten aus der Landeshauptstadt berichtet – über Kurt Gormanns, der mit seinem Bruder und den Eltern 1942 nach Riga geschafft wurde und die Todesfahrt als einziger überlebte. „Dann haben wir das Angebot gekriegt, mit dem Zug mitzufahren“, erinnert sich Josefine: „Erst haben wir abgelehnt.“ Denn die Reise sollte fast 300 Euro kosten – „zu teuer“, sagt Josefine. Wenige Tage später fanden die beiden dann aber mit Hilfe ihrer Religionslehrerin Ulrike Boni-Jacobi einen Sponsor: Die RAA Brandenburg (Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule). Dass sie dann mitfuhren, war „selbstverständlich“, sagt Nele.

Bevor es mit dem Zug in einer Zehnstundentour von der deutsch-polnischen Grenze nach Auschwitz ging, trafen sich die mitfahrenden Jugendlichen in Görlitz. Zwei Tage lang arbeiteten sie dort in verschiedenen Projektgruppen und beschäftigten sich unter anderem mit der Deportation von Kindern oder von Behinderten. Nele und Josefine trafen sich in Görlitz außerdem mit der Zeitzeugin Ruth Pilz. „Sie hat uns gebeten, ihre verstorbenen Freunde in Auschwitz im Stillen zu grüßen“, schreibt Josefine in das Tagebuch, das sie von der Reise führt.

Am Abend des 7. Mai dann die Ankunft in Oswiecim – so heißt Auschwitz auf polnisch. In der Dämmerung fahren sie am ehemaligen Stammlager Auschwitz vorbei. „Es war ziemlich schlimm“, erinnert sich Nele. Immer wieder muss sie daran denken, was sie bisher über das Schicksal der Deportierten gehört hat: „Dagegen war unsere Reise voll die Luxusfahrt.“ Fernsehteams aus verschiedenen Ländern erwarten die Jugendlichen am Bahnhof. „In der Nacht konnte ich kaum schlafen“, sagt Nele.

Der Besuch im Lagerkomplex am nächsten Tag kommt trotzdem „plötzlich“, wie Josefine sagt. Schweigend laufen die Jugendlichen vom Bahnhof zum Vernichtungslager Birkenau. Dort legen sie an einem Waggon Blumen und Schriftrollen nieder: „Briefe an die Ermordeten“, erklärt Nele. Sie legt die Grüße von Zeitzeugin Ruth Pilz bei. Danach erklärt eine polnische Führerin die Vernichtungsmaschinerie des Lagers.

Sie habe auch „ganz viele Schuldgefühle“ gespürt, erzählt Josefine. „Wir wollen, dass das unter keinen Umständen in Vergessenheit gerät“, sagt Nele. In ihrer Klasse haben sie bereits über die Reise berichtet. Gerade Gefühle seien jedoch „schwer zu vermitteln“, erklärt Josefine. „Es bringt nichts, im Geschichtsunterricht nur Daten zu lernen, man muss dagewesen sein“, ist sich Nele sicher. Die Fahrt habe sie „geprägt und verändert“. Nele und Josefine hoffen auf ein baldiges Wiedertreffen mit ihren Mitreisenden.

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