Etwas HELLA: Guten Morgen, du Schöne
Die Brandenburger Straße belegte bei der Zählung der Kauflustigen in den Hauptstädten Deutschlands und in Wien nur den 62. Platz von 74.
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Die Brandenburger Straße belegte bei der Zählung der Kauflustigen in den Hauptstädten Deutschlands und in Wien nur den 62. Platz von 74. Erst dachte ich, die Welt geht unter, aber dann habe ich mich aufgerichtet, meinen Stolz hervorgekramt und erst mal das Ergebnis angezweifelt. Vielleicht war an den Zähltagen ja gerade sauschlechtes Wetter in Potsdam oder die S-Bahn hat gestreikt und die Berliner mussten in Charlottenburg einkaufen gehen. In der Wilmersdorfer Straße. Da bin ich nach der Wende auch immer hin, als in Potsdam das Angebot noch sehr übersichtlich war. Aber jetzt – Brust raus und Überzeugung in der Stimme – bekomme ich in Potsdam alles. Und ich bevorzuge durchaus die Potsdamer City.
Aber mal abgesehen davon, dass meiner Meinung nach Äpfel mit Birnen verglichen werden, wenn die barocke, denkmalgeschützte Brandenburger Straße gegen Shoppingmeilen in München, Köln oder Berlin antreten muss, ich empfinde das geringere Gewusel in Potsdams Mitte eher als angenehm. Ist es nicht schön, am Morgen in aller Ruhe auf unserem Broadway Kaffee zu trinken? Sitzt man erst auf einem Stuhl und sogar hinter einer kleinen künstlichen Hecke, fahren einem nicht mal mehr die Lieferautos über die Schuhspitzen. Die Privatautos, die die Fußgängerzone verbotenerweise queren, kommen auch erst später. Es ist noch Platz für einen Straßenmusiker, der russische Seele zelebriert, das australische Didgeridoo nimmt eine ganze Straßenecke ein, es erklingt Popmusik auf Englisch, aber auch Mozart wird auf der Geige gefiedelt. Dazu kommen dann gegen Mittag die Touristen in Schwärmen, kaufen zwar meist nicht viel, erfreuen sich aber am preußischen Barock und den historischen Besonderheiten der City überhaupt. Man kommt sogar noch mit dem Kinderwagen, selbst mit Zwillingsüberbreite, durch all die bis in die Mitte gerückten Stühle der Cafés, Bistros und Restaurants.
Dass die Mieten so unverschämt hoch sind, ist natürlich ein Manko. Aber, oh Wunder, in die aufgegebenen Geschäfte ziehen sofort neue Mieter ein, wenn das Haus nicht vorher noch saniert wird. Einige Gebäude haben freundliche Auffrischung noch oder schon wieder ziemlich nötig. Und einige Gewerbetreibende meiner Meinung nach auch. Toiletten nur für Gäste – lese ich da an einer Gaststätte. Wenn’s pressiert, muss sich der Noch-nicht-Gast da in die Hosen pinkeln? Erst essen, dann Reste dalassen – Ordnung muss sein! Bei Werbeaufstellern, die die Straße verbarrikadieren, gilt das natürlich nicht.
Erst wurde übrigens lautstark kritisiert, dass die Brandenburger Straße zur Ramschmeile verkommt und dass eine solche Straße doch ein Aushängeschild für Potsdam sein sollte mit gehobener Qualität. Jetzt bewegen sich die Preise – nicht nur die Mieten – vorwiegend in der Spitzenklasse. Da ist es auch wieder nicht recht.
Also Schluss jetzt mit dem Gemaule. Ich liebe diese Straße und begrüße sie bei meinen Ausflügen ins Café immer mit „Guten Morgen, du Schöne!“ Und glauben Sie mir, sie lächelt zurück.
Unsere Autorin ist langjährige Redakteurin und jetzt freie Mitarbeiterin der PNN. Sie lebt in Potsdam
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