Landeshauptstadt: Haribert lebt
Jahrzehnte vergeblicher Hoffnung: Der Bruder von Doris Salzwedel, geborene Radtke, wurde 1951 Opfer des stalinistischen Mord-Terrors
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Das Totenbuch „Erschossen in Moskau“ nennt die Namen von etwa 1000 deutschen Opfern des stalinistischen Terrors, die allein im Jahr 1951 ermordet wurden. Als es kürzlich in der Gedenkstätte Lindenstraße 54 vorgestellt wurde, war das auch für die Angehörigen von Haribert Radtke eine schmerzliche Erinnerung. Der damals 22-Jährige zählte zu den 27 im Totenbuch genannten Opfern aus Potsdam. Die PNN sprachen mit Doris Salzwedel, geb. Radtke, über das Schicksal ihres Bruders.
Als Richard Radtke 1984 auf dem Sterbebett lag, gab er seinen Kindern Doris und Erhard mit auf den Weg: „Wenn Haribert aus Russland zurück kommt, pflegt ihn gut. Er wird es nötig haben.“ Da aber war sein Sohn schon mehr als drei Jahrzehnte tot. Er wurde 1951 als angeblicher Spion in Moskau erschossen und zu Asche verbrannt, die auf dem Donskoi-Friedhof vergraben ist.
Der damals 22-Jährige war am 16. April 1951 wie gewohnt mit der Straßenbahn zum FDJ-Landesvorstand in die Berliner Straße gefahren, wo der gelernte Chemietechniker eine Anstellung als Revisor für die brandenburgischen Jugendherbergen gefunden hatte. Doch an diesem Tag verschwand er spurlos. In seiner Dienststelle erhielten die besorgten Eltern die ausweichende Auskunft, Haribert sei „vielleicht auf Dienstreise“. Neueste Nachforschungen haben jedoch ergeben, dass er aus einer Straßenbahn der Linie 2 heraus von Stasi-Leuten festgenommen und an den sowjetischen Geheimdienst überstellt wurde.
Sein ungeklärtes Schicksal brachte tiefes Leid über die Familie. Die Mutter erkrankte schwer und starb früh an Diabetes. Schwester Doris, die als 11-Jährige vom großen Bruder liebevoll betreut worden war, lief mit ihr von Behörde zu Behörde, von Gefängnis zu Gefängnis, um etwas über Hariberts Verbleib zu erfahren. Vergeblich! Eine Wohnungsdurchsuchung, mit der die Radtkes auch in der Hoffung auf eine Auskunft gerechnet hatten, fand nicht statt. „Auf meine Kindheit fiel ein schwerer Schatten“, stellt die Schwester rückblickend fest. „Mein Bruder war total lustig, überall beliebt, dazu ein guter Fußballer ...“ Schon mit 19 heiratete sie den nur um ein Jahr älteren Helmut Salzwedel und entfloh so der bedrückenden Atmosphäre im Elternhaus.
Hariberts 18-jährige Freundin Inge glaubte den Grund für dessen Verschwinden zu kennen. Bei einem Tanzabend im damaligen Jugendklubhaus „John Scheer“, Berliner Straße, hatte sie einem angetrunkenen russischen Soldaten den Tanz verweigert. Der wurde handgreiflich, und Harri stoppte den ungebetenen Freier durch einen Faustschlag. Doch so einfach lag die Sache nicht. Doris Salzwedel weist auf Besuche ihres Bruders bei seiner Cousine Brunhilde in Westberlin hin, deren Ehemann für den amerikanischen Geheimdienst gearbeitet haben soll. Dort habe Harri unbefangen über seine Tätigkeit und die Situation im Osten geplaudert. Dies könne den Spionagevorwurf ausgelöst haben, der zu dem am 1. 8.1951 durch das Sowjetische Militärtribunal Potsdam verhängten und am 9.10.1951 in Moskau vollstreckten Todesurteil führte, ist ihre begründete Vermutung. Allerdings lehnt es die Berliner Verwandtschaft heute ab, zur Aufklärung des Mordes beizutragen.
Die Familie ließ nichts unversucht, dem Schicksal des Verschwundenen auf die Spur zu kommen. Doris, die alle Unterlagen über ihren Bruder sammelt und aufbewahrt, zeigt Dutzende Schreiben, die vom Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, bis zum Deutschen Roten Kreuz in München an alle nur möglichen Stellen gerichtet wurden. Selbst an die berüchtigte stalinistische DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, die „rote Hilde“, hat sich die Familie gewandt. Immerhin erreichte sie ein Ergebnis: Erhard Radtke wurde zur Potsdamer Stasi einbestellt, die ihm mündlich mitteilte, sein Bruder sei wegen Militärspionage verurteilt worden. Eine schriftliche Bestätigung dieser Auskunft wurde abgelehnt.
Auch danach vermerkten die Radtkes in jedem Personalfragebogen, dass Haribert 1951 verschwunden und sein Schicksal ungeklärt sei. Damit machten sie bei den DDR-Behörden keine Pluspunkte, schon gar nicht der vielen noch als Ligatorwart von Motor Babelsberg bekannte, im Vorjahr verstorbene Helmut Salzwedel, der das Anliegen seiner Frau unterstützte. Als Vater Radtke 1981 aufgefordert wurde, seinen Sohn für tot erklären zu lassen, damit dessen Sparbuch freigegeben werden könne, lehnte er ab: „Haribert lebt“.
Erst nach der deutschen Wiedervereinigung erhielten die Verwandten endgültig Aufschluss über die Ermordung Haribert Radtkes. Das ist den Forschungen und Veröffentlichungen der Internationalen Menschenrechtsorganisation Memorial, der Stiftung Aufarbeitung und dem Berliner Historischen Instituts facts & files zu verdanken. Die Familie konnte mit Überlebenden des stalinistischen Terrors sprechen, so Friedrich Hübner, der mit ihm im Gefängnis Lindenstraße eine Zelle teilte, und seinem mitverhafteten Freund Harri Adam, der ihn noch im Zug Richtung Moskau gesehen hatte. Am 15. Mai 1995 wurde Haribert Radtke durch die Moskauer Hauptmilitärstaatsanwaltschaft rehabilitiert. Die im Vorjahr auf dem Donskoi-Friedhof eingeweihte Stele für deutsche Opfer des stalinistischen Terrors gilt auch seinem Andenken.
Erhart Hohenstein
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