Homepage: „Heilige Schrift“ der Partei
ZFF -Mitarbeiter forschte zum Geschichtswerk der SED
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ZFF -Mitarbeiter forschte zum Geschichtswerk der SED Von Carsten Dippel Pünktlich zum 20. Jahrestag der SED 1966 liegen sie auf dem Tisch: Acht in feines Leinen gehüllte Bände zur „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“. Betreut von „Stilredakteuren“, Parteistrategen und ideologisch geschulten Gutachtern haben mehr als zweihundert Historiker daran mit Akribie und nicht selten bis zur Verzweiflung ein ganzes Jahrzehnt geschrieben. An Auflagenhöhe und Ressourcenverschwendung stellte dieser Kanon der Parteigeschichte alles bisherige in den Schatten. Er galt als wahrhaft „Heilige Schrift“ der SED, die fortan schlicht nur noch der „Achtbänder“ oder das „Geschichtswerk“ war. Um dem großen Werk gerecht zu werden, fälschte sogar der „Historiker im dritten Beruf“ Walter Ulbricht seine Biographie. Die Partei hatte schließlich, wie sie selbst so fröhlich sang, „immer recht“. Dr. Siegfried Lokatis, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) am Potsdamer Neuen Markt, publizierte bereits mehrfach zu den bizarren Mechanismen von Zensur und Literaturbetrieb in der DDR. Mit seinem neuen Buch durchforstet er das schier undurchdringliche Dickicht aus dem der Achtbänder hervorging, der schließlich für alle Zeiten und allumfassend den korrekten Interpretationsrahmen zum Verständnis der Geschichte liefern sollte. Dem Leser offenbart sich eine skurrile Unterwelt des SED-Staates, in der Fragen zur Novemberrevolution oder zur korrekten Reihenfolge bei der Nennung von „Karl und Rosa“, die Edition der Thälmann-Briefe ebenso wie der richtige Umgang mit den Stalin-Verbrechen höchste Staatsangelegenheit waren. Um jede Fußnote zur Parteigeschichte wurde kollektiv gerungen, jede Namensnennung in einem intensiven Diskussionsprozess geprüft. Große Bedeutung wurde dabei stets der „Verantwortlichkeit“ beigemessen: Das Autorenkollektiv hatte „verantwortlich“ zu schreiben, der Redakteur „verantwortlich“ zu lesen und der Zensor, den es offiziell natürlich nicht gab, „verantwortlich“ zu entscheiden. Im Klartext hieß das: Ausnahmslos alle Fragen zur Parteigeschichte mussten mit den vorgegebenen Leitlinien übereinstimmen. Welch holdes Glück bescherte da den unzähligen Akteuren der „Achtbänder“! Nun endlich brauchte man nicht länger – weder als Autor noch als Zensor – im Trüben fischen, auf die richtige Intuition zur Formulierung der historischen Wahrheit hoffen, sondern konnte im Zweifelsfall einfach einen Blick in die „Heilige Schrift“ werfen. Das „Geschichtswerk“ strahlte dennoch nicht allzu lang – nach Ulbrichts Sturz 1971 verstaubte es in den Regalen. Es blieb wohl selbst für SED-wohlgesonnene Augen auf Dauer ungenießbar. Man mag heute erstaunt fragen, weshalb sich die SED mit so ungeheurem Aufwand ihrer Geschichte widmete. Doch eine Staatspartei, die so überzeugt von der geschichtlichen Notwendigkeit ihrer Mission war, musste stetig nach Legitimation suchen. So kam es darauf an, „wissenschaftlich“ darzulegen, dass sie der glorreiche Höhepunkt eines mehr als 100-jährigen Prozesses war. „Richtig“ betrachtet und „verantwortlich“ gedacht, schien es demnach unerheblich, ob historische Details stimmig waren. Schließlich sollte die Herrlichkeit des großen Ganzen verkündet, die Überlegenheit gegenüber dem Westen bekundet, die Konkurrenz im eigenen sozialistischen Lager besiegt und dem treuen Genossen ein Leitfaden für ungelöste Fragen an die Hand gegeben werden. Daher verwundert es nicht, wenn nebensächliche Fragen zum höchsten Politikum avancierten, ein falsches Komma unübersehbare Folgen hatte oder das Erscheinen einer mehrbändigen Grotewohl-Geburtstagsausgabe an einer einzigen Fußnote scheiterte. Mit bestechender Detailkenntnis leuchtet Lokatis den komplexen Hintergrund der Entstehung des Machtwerks aus. Er entführt den Leser dabei mit Charme und verschmitztem Blick in diese merkwürdig anmutende Welt und macht die Lektüre des „Roten Fadens“ zum Vergnügen der besonderen Art. Siegfried Lokatis: „Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht“, Köln (Böhlau) 2003, 392 S., 39,90 Euro
Carsten Dippel
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