
© Andreas Klaer
Landeshauptstadt: Heimat für Heimatlose
Im Awo-Wohnprojekt „Junge Wilde“ sollen obdachlose und kranke Jugendliche wieder das Leben lernen
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Nedlitz - Der Korb für Anica Schöns Jack-Russel steht noch in einer Ecke ihres Zimmers. Doch der Vierbeiner darf nicht bei ihr leben. „Hunde sind hier verboten, deshalb lebt er nun bei meiner Oma“, erzählt sie. Es ist nicht die einzige Regel, an die sich die 23-Jährige halten soll.
Sie ist eine der „jungen Wilden“ am Lerchensteig. Ein nahezu fröhlicher Name für eine Wohngemeinschaft junger Erwachsener im Obdachlosenheim der Arbeiterwohlfahrt (Awo). Abseits des „normalen“ Heims ist in einem Flachbau Platz für 20 junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren, die lernen sollen, ihren Alltag wieder zu bewältigen. Im Amtsdeutsch spricht man in diesen Fällen von „Mehrfach-Problemlagen“. Alkoholismus, Drogen- und Spielsucht, Schulden, psychische Erkrankungen – vom Leben enttäuscht haben sie sich selbst aufgegeben und werden nun von Sozialarbeitern, Medizinern und anderen Beratern an die Hand genommen, um das Leben wieder zu lernen. Sie werden bei Amtsgängen begleitet, im Alltag unterstützt und dürfen sich ausheulen, wenn es denn sein muss. Eine Heimat für junge Menschen, die keine Heimat mehr haben.
Die 23-Jährige hat einen Achte-Klasse- Abschluss, keine Lehre. „Als meine Eltern gestorben sind, bin ich ins Heim gekommen.“ Sechs Jahre lebte sie dort. „Danach gab es für mich nur noch die Straße, Alkohol, Drogen, Bettelei – für gut drei Jahre. Geschlafen habe ich in der S-Bahn.“
Anica Schön gehört zu den Jugendlichen, die von der Hartz IV-Agentur Paga in ihren jungen Jahren bereits abgeschrieben sind. Im Verwaltungssprech heißt die Einstufung „integrationsfern“. Das heißt: Keine Förderung, nur Restriktionen. „Wir wollen, dass diese Menschen eine Perspektive erhalten und wieder in Gesellschaft und Alltag integriert werden“, erklärt Christa Zinnecker, die Leiterin des Obdachlosenheims eines der Ziele.
Anica Schön ist seit August 2009 bei den „Jungen Wilden“. Wie alle anderen lebt sie in einem Einzelzimmer. „Wir müssen die Voraussetzungen schaffen, dass die Jugendlichen erst einmal hier bleiben“, begründet Zinnecker diesen „Luxus“. Ein Fernseher, Spielekonsole, Computer – es sieht wie im normalen Jugendzimmer aus, wären da nicht die leeren Bierflaschen in einer Zimmerecke. Der Flachbau der „Jungen Wilden“ ist ein „nasses Haus“ – Alkohol ist erlaubt. Dafür gibt es andere Regeln: Ab 22 Uhr ist Nachtruhe, Gäste müssen die Zimmer verlassen haben. Ein Putzdienst für Gemeinschaftsräume soll Verantwortung schulen. Die Arbeiten sollen bei den Bewohnern möglichst zu einem Umdenken von innen heraus führen. Doch das dauert: „Es braucht eine lange Zeit, um allein die Alltagsregeln wieder zu beherrschen“, weiß Christa Zinnecker.
Auch Anica Schön ist noch am Anfang: den Absprung von Alkohol und Drogen hat sie noch nicht geschafft, gibt sie gegenüber Andrea Wicklein zu. Die SPD-Bundestagspolitikerin informierte sich gestern über das Wohnprojekt. Allerdings hat Anica Schön schon erreichbare Ziele für sich gefunden: Jetzt will sie den Schulabschluss schaffen, dann Tierpflegerin werden. „Das packen wir schon“, sagt Anica Schön beim Abschied zu Andrea Wicklein. Dann flitzt die 23-Jährige los. Erst zu ihrem Hund, dann „Party machen“. Es ist ein weiter Weg. Kay Grimmer
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