Landeshauptstadt: „Helden oder Idioten“
Zehn Jahre Gesetzestreue jüdische Gemeinde
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„Verlorene Zeit“ nennt Shimon Nebrat das vergangene Jahrzehnt. Im Januar 1999 gehörte er zu den Mitbegründern der Gesetzestreuen jüdischen Gemeinde. „Bis heute existiert keine einzige jüdische Einrichtung in Potsdam“, sagt der heutige Geschäftsführer. Zum jüdischen Leben gehörten mindestens Synagoge, Kindergarten, Schule und Seniorenheim. „Und natürlich ein Rabbiner“, für die Glaubenslehre und die Seelsorge. Alles das gibt es nicht. Seine Gemeinde hat ein paar Büroräume angemietet, in denen auch der Unterricht der Jüdischen Volkshochschule stattfindet. Und freitags werde hier „heimlich“ Sabbat begangen. Trotz aller Widrigkeiten feiert die Gemeinde am morgigen Sonntag mit gutem Essen, Musik und Tanz ihr Jubiläum.
Als Nebrat 1994 aus dem russischen St. Petersburg nach Potsdam immigrierte, hatte das Land Brandenburg bereits rund 4000 sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion aufgenommen. Die damals schon bestehende Gemeinde sei für ihn als Religionsgemeinschaft nicht in Frage gekommen. „Eine jüdische Gemeinde wird von Juden gegründet, um das Judentum zu pflegen“, erklärt er. Er sei persönlich von dem inzwischen verstorbenen Rabbiner Halberstadt, dessen Vater 1921 den Halberstädter Verband gegründet hatte, angewiesen worden, eine gesetzestreue Landesgemeinde ins Leben zu rufen. Vertreter dieses Rabbinats sitzen heute ausschließlich in Israel. Die hiesige erhalte täglich Post aus dem „Land der Juden“ – mit Anweisungen, wie Nebrat erklärt.
Er sei ein Ashkenasen, ein deutschstämmiger Jude. Seine Eltern hätten beide in Jiddisch miteinander gesprochen. Trotzdem wurde die Flucht nach Deutschland von Freunden und Bekannten zwiespältig beäugt: „Wir galten entweder als Helden oder Idioten“, sagt Nebrat. Das Land bestimmte er, der Ort Potsdam aber sei „Bestimmung“ gewesen. Seit Jahren kämpfen die Gesetzestreuen um Anerkennung als jüdische Gemeinde. Sie klagten mehrfach vor Verwaltungsgerichten, forderten die Gleichbehandlung mit der Konkurrenzgemeinde ein. Inzwischen haben die Gesetzestreuen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Sie halten den zwischen Landesregierung und Potsdamer Gemeinde geschlossenen Staatsvertrag für verfassungswidrig. Eine Wertung aus Karlsruhe wird in diesem Jahr erwartet.
Er sei nach Deutschland gekommen, weil er glaubte, dass die Menschen, die jüdisches Leben vernichteten, sich verpflichtet fühlen, es wieder aufzubauen. „Wenn schon nicht von Herzen, dann, weil sie keine andere Wahl haben“, sagt Nebrat. Zehn Jahre seien verloren. „Wir konnten den Kindern kaum jüdische Traditionen vermitteln.“ Sein Sohn ist jetzt 20 Jahre alt, studiert in Berlin und werde nicht in Brandenburg leben. „Er versteht aber, dass ich bleiben muss“, so der Gesetzestreue. Er werde weiter kämpfen und „trotz aller Vertreibungsversuche der brandenburgischen Landesregierung“ bleiben. Nebrat sagt, das wurde so entschieden – von Gott. Nicola Klusemann
Nicola Klusemann
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