Landeshauptstadt: „Ich hatte nur noch Angst“
Ein 36-jähriger Potsdamer wurde bei den G8-Protesten schwer verletzt – nun will er die Polizei verklagen
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Den letzten Moment, bevor er mit seinem linken Auge nie mehr so sehen können wird wie vorher, hat sich der Potsdamer Steffen B. gemerkt. Er schildert ihn im Gespräch mit den PNN so: Der 36-Jährige befindet sich am 7. Juni diesen Jahres gegen 12.30 Uhr bei einem Dorf namens Hinter-Bollhagen auf einer Wiese; um ihn herum tausende Demonstranten gegen den G8-Gipfel, die den Zufahrtsweg zum Tagungsort Heiligendamm blockieren wollten. Auf dieser Straße stehen aber längst Polizisten, dahinter Wasserwerfer. 20 Minuten ist der drahtige Mann mit dem blonden Haaren schon da. „Ich bin nach vorne gegangen, zu Demonstranten, die sich mit einer Plastikplane gegen die Wasserwerfer schützen wollten.“ Der Protest, so betont Steffen B. oft, sei zu diesem Zeitpunkt friedlich verlaufen, viele Teilnehmer hätten die Hände erhoben. Auf einmal habe er einen Polizisten gesehen, der mit einem Knüppel in drei Richtungen zeigt, auch in seine. Um ihn herum ducken sich die Demonstranten. Er hört einen Polizeisprecher durch ein Megafon „Wir löschen jetzt“ sagen. „Da stand ich frei, sah noch, wie sich die Kanone auf dem Dach des Wasserwerfers auf mich richtete, blickte auf den jungen Polizisten in der Fahrzeugkabine – und dann flog ich um.“
Wegen des Schusses auf den Kopf von Steffen B. wird sein Potsdamer Anwalt Steffen Sauer spätestens in der nächsten Woche eine Strafanzeige bei der Rostocker Staatsanwaltschaft gegen einen unbekannten Polizeibeamten stellen, wegen schwerer Körperverletzung. Bisher hat er dafür mehrere Gedächtnisprotokolle von Anwesenden gesammelt, dazu Fotos gesichtet, mitgeschnittene Videos von Demonstranten. Auf einem glaubt sich Steffen B. zu erkennen. „Wir wollen, dass die Polizisten und die Einheit gefunden werden, die an jenem Tag in diesem Abschnitt ihren Dienst hatten“, sagt Sauer.
Möglichst vor Gericht will Steffen B. aussagen, was ihm passiert ist, auch seine Gefühle nach dem Treffer. „Ich hatte nur noch Angst, weil ich jede Orientierung verloren hatte.“ Einer schreit neben ihm, wegen des Blutes in seinem Gesicht: „Dir haben die das Auge weggeschossen.“ Da erst realisiert Steffen B. das Geschehen: „Ich bekam von anwesenden Sanitätern über beide Augen eine Binde, sah nichts mehr, hatte nur noch Schmerzen.“ Ein Krankentransporter der Polizei fährt ihn über den Umweg Bad Doberan in die Klinik nach Rostock. Zwei Freunde müssen nach dem ersten Teil der Strecke aussteigen. In der Klinik ist er allein. Weil es schnell gehen musste, so erinnert sich Steffen B. an die Worte der Ärzte, wird er nur mir örtlicher Narkose behandelt. Erst spürt er die Spritzen, dann die Instrumente. „Ich habe eine Stunde lang gemerkt, wie sie mein Auge behandelt haben.“ Die Diagnose: Sein Auge ist nach unten gerutscht, weil sein Jochbein zertrümmert ist. Sein Augenlid ist zur Hälfte abgerissen. Jetzt ist seine Netzhaut in der Mitte vernarbt, sein Pupille dauerhaft vergrößert. Er sieht links noch fünf bis zehn Prozent im Vergleich zu vorher, kann nur noch Schatten und Umrisse auf dem Auge wahrnehmen. Öffnet er beide Augen, sieht er zweidimensional. „Bestimmte Sehbereiche sind einfach weg“, sagt er. Wer mit Steffen B. zurzeit redet, wird die übermäßige Tränenbildung in seinem linken Auge beobachten und sieht, dass das frühere Blau milchig verfärbt wirkt. Über seinen Beruf – Ausbilder im medizinischen Bereich – sagt Steffen B., dass „es eine sehr schwierige Sache“ werde, ihn je wieder auszuüben: „Ich habe noch Hoffnung auf ein medizinisches Wunder.“
Bei der polizeilichen Sondereinheit „Kavala“, die zum G8-Gipfel extra gebildet wurde, kennt man den Fall – und will ihn prüfen, wenn die Strafanzeige eingegangen ist. „Wenn Wasserwerfer eingesetzt werden, müssen diese auf Beinhöhe zielen“, sagt Ulf Erler, Sprecher der Polizeieinheit. Es sei aber möglich, dass der Strahl des Wasserwerfers das Gesicht eines Menschen treffen könne, wenn dieser zu Boden falle. Verletzungen wie im Fall von Steffen B. seien so grundsätzlich möglich: „Aber auch der Strahl einer Wasserpistole aus nächster Nähe kann zu einer schweren Verletzung führen.“ August Hanning, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, sagt in einem Interview mit dem Magazin „Der Spiegel“, angesprochen auf die Verletzung von Steffen B. und ob die Polizei zu hart vorgegangen sei: Es sei niemand erschossen worden. „Das Ergebnis zählt, und mit dem können wir sehr zufrieden sein“, so Hanning.
Über solche Äußerungen regt sich Steffen B. auf. „In diesem Moment ging die Gewalt von der Polizei aus.“ Er selbst ist kriminell noch nie in Erscheinung getreten: Entsprechende Einträge kann die Potsdamer Staatsanwaltschaft nicht finden. Auch deswegen fühlt sich Steffen B. im Recht: Der gesamte G8-Einsatz sei für ihn der krasseste Fall gewesen, wie ihm sein Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit verwehrt wurde. Nach Heiligendamm gefahren sei er wegen einer von ihm wahrgenommenen „zutiefsten Ungerechtigkeit in der Gesellschaft.“ Beeindruckt sei er von der Spendenbereitschaft gewesen, als seine Geschichte zum Potsdamer Anti-G8-Bündnis durchgesickert sei, obwohl er vorher mit Mitgliedern der bekannten linken Gruppen der Stadt kaum in Kontakt gestanden habe. „Ich bekam beispielsweise die Einnahmen eines Soli-Konzertes.“ Und obwohl er mit sich „ringen würde“, ob er noch einmal eine solche Anti-G8-Demo wie an jenem Donnerstag besuchen würde, sagt er: „Ich hoffe, dass sich die Leute durch mein Schicksal nicht von friedlichen Protesten abschrecken lassen.“
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