Von Erhart Hohenstein: „Ich saß friedlich im Café Heider “
und dann kam die Volkspolizei: Ein Augenzeugenbericht von der Demonstration durch Potsdam und den anschließenden Verhaftungen am Nauener Tor am 7. Oktober 1989
Stand:
„Mit einer Freundin saß ich am 7. Oktober friedlich im Café Heider, da wurde ich der Volkspolizei zugeführt und unter menschenunwürdigen Bedingungen 27 Stunden lang festgehalten.“ So begann ein Leserbrief von Katrin Müller zur Demonstration am 7. Oktober 1989. Wie die in Geltow wohnende Studentin drückten damals an die 80 Leser unumwunden ihre Kritik an der Berichterstattung unserer Zeitung über die Protestdemonstration mit 2000 Teilnehmern am 40. Jahrestag der DDR aus, die von der Volkspolizei niedergeschlagen worden war.
Die erste Information darüber wurde in den Brandenburgischen Neuesten Nachrichten (BNN) erst am 10. Oktober veröffentlicht. Sie bestand im gekürzten Nachdruck einer Mitteilung, die das Volkspolizei-Kreisamt (VPKA) am Vortag nur der SED-Zeitung „Märkische Volksstimme“ (heute „Märkische Allgemeine Zeitung“) übergeben hatte. Brav druckten wir die Sprüche über eine vom Westen aus dirigierte „Zusammenrottung von Provokateuren“ nach, die die Volkspolizei zur „Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung“ veranlasst habe. Katrin Müller aus Geltow stellte zu dieser Verlautbarung klar, dass sie sich „weder zusammengerottet habe, um die Volksfeste zu stören, Bürger zu verunsichern und Familien zu verängstigen“ noch „bereits kriminell in Erscheinung getreten“ sei.
Wir hätten es besser wissen müssen, denn auch in der Redaktion tauchten die unscheinbaren Handzettel mit dem Aufruf zur Demonstration auf, auf der die Bürgerrechte und eine Demokratisierung der DDR eingefordert werden sollten. Der Text: „40 lange Jahre. Wir haben genug geschwiegen. In diesen Tagen wird an vielen Orten das Schweigen gebrochen. Wir treffen uns am 7. Oktober um 14 Uhr in der Klement-Gottwald-Straße am Brandenburger Tor. Bringt als Zeichen der Hoffnung eine Blume mit. Gegen Resignation und Angst!“ Passanten wurde der Termin selbst auf den Straßen zugeflüstert.
In der BNN-Redaktion wurde über diese Ankündigung nicht gesprochen, geschweige denn sollte darüber berichtet werden. Ich hielt es dann aber doch nicht aus und radelte nach dem Mittagessen los und fuhr zur Klement-Gottwald Straße (Brandenburger Straße). An deren Einmündung holten mich Volkspolizisten vom Rad. Doof stellen – „Ich will doch nur nach Hause“ – half nichts, nur von weitem konnte ich die Auseinandersetzungen und dann auch die Festnahmen von Beteiligten und Unbeteiligten beobachten, die aus dem Café Heider heraus auf am Nauener Tor vorgefahrene Lastwagen verladen wurden. Bekanntlich wurden 106 Personen festgenommen, darunter zwei unbeteiligte Bürger aus den USA und ein Pressekorrespondent aus der Sowjetunion. Für die Rückfahrt musste ich einen großen Bogen machen, denn die Volkspolizei hatte auch Seitenstraßen im Zentrum gesperrt. In der BNN-Redaktion erlangte die von den Pfarrern Martin Kwaschik und Hans Schalinski organisierte Demonstration erst danach Bedeutung. Plötzlich hatten die Menschen ihre Angst vor Staatsmacht und Stasi verloren. Chefarzt G. Kautzsch beglückwünschte ironisch die BNN „im Auftrag von Baron Münchhausen“ zu ihrer „wertungsfreien“ Berichterstattung, Pfarrer i.R. Fritz Dorgerloh wünschte sich eine Zeitung „mit Mut zur Wahrheit und Risikobereitschaft“ und Christian Schilling meinte, „wenn Ihr weiter für die SED die Schubkarre fahren wollt, dann löst Eure Zeitung auf“. Auf meinem Schreibtisch lag plötzlich ein Umschlag mit Fotos, die ein mutiger Fotograf von den Übergriffen der Polizei gemacht hatte. Erst später erfuhr ich, dass sie von Bernd Blumrich stammten.
In der Redaktion löste dies einen Klärungsprozess aus - all die kritischen Leserbriefe wurden gedruckt. Der neue 1. SED-Kreissekretär Heinz Vietze, der sich zuvor „voll hinter die Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR“ gestellt hatte, sprach den Demonstrationen nun eine „Berechtigung“ zu. Nun aber, erklärte er schlitzohrig, gelte es ohne sie auszukommen, um im Dialog um progressive Lösungen zu ringen. Auf dieses Ansinnen antworteten am 4. November 100 000 Menschen mit der größten Demonstration, die Potsdam in seiner Geschichte erlebt hat.
Erhart Hohenstein war von 1961 bis 2003 Lokalredakteur der BNN, später PNN
Erhart Hohenstein
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