zum Hauptinhalt
Michael Radke, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Potsdamer Klinikums „Ernst von Bergmann“.

© Manfred Thomas

Interview: „Ich wusste, die Babys werden nicht krank“

Michael Radke, Chefarzt der Kinderklinik des Potsdamer Bergmann-Klinikums, über den Darmkeim und das Risiko für Kinder, mehr Frühgeburten und die Konsequenzen für die Potsdamer Frühchenexperten

Stand:

Herr Radke, seit der Darmkeim Enterobacter an den Körpern von sechs Neugeborenen auf der Frühchenstation des Bergmann-Klinikums entdeckt wurde, sind 24 Tage vergangen. Noch immer sind die Kinder mit dem Keim besiedelt.

Dass die Keime da sind, ist ein Zeichen von Normalität. Sie gehören an die Haut von Neugeboren und lösen nur bei bestimmten Bedingungen Krankheiten aus.

Zum Beispiel bei absolut empfindsamen Frühchen, die keine Immunabwehr haben?

Grundsätzlich haben wir mit den Frühgeborenen schon von sich aus ein Hygieneproblem. Sie kommen mit einer Infektion oder einer Besiedlung mit Keimen zur Welt. Denn die Ursache der Frühgeburtlichkeit liegt zu über 90 Prozent darin, dass die Geburtswege und die Eihäute der Schwangeren sich infizieren. Deswegen gibt man weltweit den Frühgeborenen in den ersten Lebensstunden Antibiotika, auch ohne zu wissen, welche Keime eine Infektion auslösen. Das Problem bei den Frühchen ist, dass sie gegen diese Keime, die sonst keinem was Böses tun, nicht gefeit sind. Sie haben keinen Schutz und sind ihnen deshalb ausgeliefert.

Also war der Enterobacter-Keim für die sechs Frühchen gefährlich?

Unsere Frühchen haben täglich mit Keimen zu kämpfen, heute sind es Enterobakterien, morgen Serratien, übermorgen sind es Klebsiellen und an einem anderen Tag sind es bestimmte E.Coli-Stämme. Wir wissen seit Jahren, dass das Risiko Nummer eins bei so kleinen Kindern die Infektion ist. Das ist nicht vergleichbar mit allen anderen Gebieten der Medizin.

Aber dennoch haben Sie nach der Feststellung der Enterobacter-Keime nach einer Routinekontrolle alarmiert reagiert und dem Potsdamer Gesundheitsamt einen möglichen Keim-Ausbruch gemeldet.

Überall, wo Menschen arbeiten, gibt es Konventionen, Gesetze und Vorgaben. Hier hat man sich entschieden, dass es eine Meldung geben muss, wenn mehr als zwei Frühchen von demselben Keim besiedelt sind. Wir haben die höchste Versorgungsstufe der Neonatologie, das Level 1, und wir wären schlecht beraten, wenn wir uns an die Vorgaben nicht halten würden. In der Praxis aber wissen wir, dass uns die Meldevorgaben eigentlich gar nichts nutzen. Wenn eine Meldung gegeben wird, haben wir schon längst gehandelt und das Frühchen behandelt.

Haben Sie eine Ahnung, wo der Enterobacter-Keim herkommt?

Wahrscheinlich werden wir das gar nicht herausbekommen. Viele Keimquellen werden nie gefunden. Dass sechs Kinder mit demselben Keim besiedelt sind, macht uns natürlich alle hellwach.

Haben Sie Konsequenzen gezogen, die Hygiene überprüft?

Eigentlich müssten wir keine besonderen Konsequenzen ziehen. Aber wir wären schlecht beraten, wenn wir nicht doch noch einmal alles auf den Prüfstand stellen und nachfragen würden, ob wir auf alles einhundertprozentig geachtet haben.

Gibt es einen Grund dafür, dass das Bergmann-Klinikum anders als die meisten anderen Krankenhäuser der Umgebung die Hygienedaten seines Perinatalzentrums nicht veröffentlichen will?

Wir werten gerade die Daten mit unserem Chefarzt für Krankenhaushygiene aus und werden diese demnächst bereitstellen.

Vor den umfangreichen Tests im Nationalen Referenzzentrum für Krankenhaushygiene wussten Sie nur, dass es sich um einen Enterobacter-Keim handelt – jedoch nicht, ob er möglicherweise resistent gegen Antibiotika ist.

Richtig, das wussten wir nicht. Aber auch wenn das jetzt widersprüchlich ist, im Prinzip wussten wir es doch. Durch die Routineuntersuchungen der Kinder alle zwei Wochen kennen wir unser Keimspektrum auf der Station. Wir kennen unsere problematischen Keime und wissen, worauf sie reagieren oder auch nicht.

Zu diesen problematischen Keimen gehört der Enterobacter-Keim?

Nein. Aber der Enterobacter ist eigentlich ein Keim, der zur normalen Darmbesiedlung gehört. Und Frühgeborene sind normalerweise mit der Fäkalflora der Schwangeren besiedelt – wir wissen also ungefähr Bescheid mit diesem Keim.

Wie gefährlich war also die Situation mit den Enterobacter-Keimen wirklich?

Ich habe gewusst, dass die Kinder nicht krank werden. Sie waren schon aus dem Gefahrenbereich heraus, sie waren mehr als zwei oder drei Wochen auf der Welt. Außerdem hatten sie keine Infektionen, sondern eine Besiedlung. Und selbst wenn es zu einer Infektion gekommen wäre, hätten wir gewusst, gegen welches Antibiotikum der Keim empfindlich ist. Es gab es zu keiner Zeit ein Risikopotenzial. Ich bin zu keinem Zeitpunkt irgendwie nervös gewesen. Ich werde nervös, wenn ich unbeherrschbare Risiken sehe, Herzfehler bei Kindern oder bestimmte Hirnblutungen. Aber diese Besiedlung hat mich extrem ruhig schlafen lassen.

Wie reagieren die Eltern der Frühchen?

Die reagieren cool, im guten Sinne. Ich habe einen tollen Draht zu den Müttern, die sind zum Teil ja sechs bis acht Wochen jeden Tag über Stunden hier. Die kennen alle unsere Leute. Es herrscht ein familiäres Miteinander. Wir hatten zudem am Mittwoch einen Informationsabend für Schwangere und auch für diese Frauen waren die Keime erstaunlicherweise kein Thema.

Wie geht es mit den besiedelten sechs Frühchen weiter? Man kann die Keime ja nicht behandeln.

Ich würde auch verbieten, sie zu behandeln. Das wäre ein Kunstfehler. Das darf man nicht machen, weil dann wieder andere Bakterien hochkommen, die wir gar nicht haben wollen. Wenn die Frühchen stabil sind, saugen und die Wärme halten können, dürfen sie nach Hause.

Täuscht der Eindruck, dass immer mehr Kinder zu früh zur Welt kommen?

Konstant sieben Prozent aller Neugeborenen sind Frühgeburten. Es wird zudem in den nächsten Jahren wahrscheinlich eine Zunahme geben. Aus mehreren Gründen: Die Frauen, die Kinder bekommen, werden immer älter. Und es gibt immer mehr induzierte Schwangerschaften, welche in der Regel Mehrlingsschwangerschaften sind – und diese sind meist Frühgeburten. Ich fürchte auch, dass die Qualität der Schwangerenvorsorge nachlassen wird. Auch das heißt, dass die Frühgeburtlichkeit steigen könnte.

Sind die Kliniken darauf vorbereitet?

Mein Appell ist, Mittel, Ressourcen und Knowhow zu konzentrieren. Wir haben viel zu viele Neonatologien in Deutschland, die mit diesen speziellen Problemen auf Dauer wahrscheinlich nicht fertig werden können, weil uns das Fachpersonal fehlt.

Das heißt im Umkehrschluss, das Klinikum in Potsdam soll seine Neonatologie erweitern?

Es gibt im Land Brandenburg strukturelle Aufgaben, um es schonend auszudrücken. Ich wünschte mir eine weitere Konzentration von Risikoschwangerschaften dort hin, wo der von der Geburtshilfe und Neonatologie absolute Hightechstandard existiert.

Und das ist hier?

Wir sind in der glücklichen Lage, das liefern zu können. Und wir wären auch in der Lage, unser Angebot auf weitere Bereiche Brandenburgs auszudehnen. Das werden wir auch tun müssen.

Eine Neonatologie bringt einem Klinikum sicher eine ganze Menge Geld ein.

Da bin ich mir gar nicht sicher. Sie müssen bedenken, was Sie da investieren müssen. Wir haben einen viel höheren Pflegeschlüssel. Dann die technischen Investitionen, so ein Atmungsgerät für Frühgeborene kostet knapp 80 000 Euro. Sie müssen Intensivschwestern haben, die eine spezielle Ausbildung brauchen. Sie brauchen spezielle Kinderärzte. Wir haben fünf, die die Schwerpunktanerkennung Neonatologie haben. Natürlich bekommen wir für ein Frühgeborenes eine ganze Menge Geld. Man muss aber auch bedenken, dass es nie unter 90 Tagen Krankhausaufenthalt läuft. Manche müssen auch länger hier sein. Und da können Sie sich vorstellen, wie viel Personal man braucht. Das ist eine Herausforderung.

Interview: Sabine Schicketanz

Prof. Dr. Michael Radke, Jahrgang 1953, ist seit 1997 Chef der Kinderklinik des Bergmann-Klinikums; seit 2008 leitet er auch das Zentrum für Frauen- und Kinderheilkunde. Er hat in Magdeburg und Rostock studiert und zunächst an der Universitätskinderklinik Rostock gearbeitet. Seine klinischen und wissenschaftlichen Schwerpunkte sind chronisch entzündliche Darmerkrankungen und die Ernährung im Säuglings- und Kindesalter. Er ist Vorsitzender der Fachkommission für Kinder- und Jugendmedizin der Landesärztekammer Brandenburg. Michael Radke ist verheiratet und Vater zweier Töchter. SCH

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })