zum Hauptinhalt

Von Theresa Münch: „Im Energiesparmodus“

Scheinbar zahm sehen sie aus – doch Przewalski-Pferde werden wieder wild

Stand:

Liebenwalde - Die Wildnis ist in ihren Köpfen neu erwacht: Wer das Reich der Przewalski-Pferde im Semi-Reservat bei Liebenthal (Oberhavel) betritt, begibt sich unwissend in Gefahr. Denn ihr ungestümes Wesen sieht man den kleinen, sandfarbenen Steppenpferde mit den weißen „Mehlmäulern“ nicht an. Scheinbar zahm stehen sie am Zaun, doch Klaus Scheibe vom Berliner Institut für Zoo- und Wildtierforschung warnt: „Das sind schon längst keine Streicheltiere mehr.“ Seit 1992 lernen Przewalski-Pferde im Semi-Reservat nahe Berlin unter wissenschaftlicher Aufsicht das Überleben in der Wildnis. Sie alle waren Zootiere, sind in Gefangenschaft geboren. In Liebenthal jedoch leben längst vergessene Instinkte wieder auf. Das Przewalski- Pferd ist die einzige Wildpferdrasse, die bis heute überlebt hat. Die letzten frei lebenden Tiere wurden 1969 in der Mongolei beobachtet, seither gelten sie in freier Wildbahn als ausgestorben. Nur in Zoos wurden Przewalskis erhalten und gezüchtet. Alle der derzeit rund 1500 Tiere gehen daher auf einst zwölf Pferde zurück – und die hatten das Leben in der Natur längst verlernt.

Im brandenburgischen Semi-Reservat leben jetzt neun der Pferde zusammen mit Damhirschen und Mufflons auf 44 Hektar Land, fast ohne menschlichen Kontakt- und das auch im Winter, wenn das Futter knapp und von Schnee bedeckt ist. In ihren ersten Winter in Freiheit „stolpern die Zoopferde immer vollkommen unvorbereitet rein“, berichtet Scheibe. Doch sie lernen schnell und fahren den Körper „in den Energiesparmodus“ herunter. Im Herbst „fressen sie wie die Raupen“, im Winter hungern sie und bewegen sich kaum - ein Verhalten, das die Tiere im Zoo vollständig verlernt hatten.

Ursprünglich sollten die Przewalski-Pferde in Liebenthal auf eine Auswilderung in der Mongolei vorbereitet werden, doch diese Idee haben die Wissenschaftler schnell verworfen. „Bei den Auswilderungsprojekten hat man eine Reihe Fehler gemacht“, erklärt Scheibe. Viele Tiere seien bei den Versuchen gestorben. In die Mongolei ist daher kein einziges der Liebenthaler Wildpferde geschickt worden; zwei dafür nach China und eines in ein Semi- Reservat in der ungarischen Puszta. „Dort hat unsere Stute sofort das Kommando über die Herde übernommen“, berichtet der Tierexperte nicht ohne Stolz.

Mit einem alten DDR-Lastwagen der Nationalen Volksarmee (NVA) fährt Scheibe jeden Monat ins Reservat, auf dem Dach eine meterhohe Antenne. In den ersten Jahren wurde jede Bewegung der Wildpferde aufgezeichnet. Die Wissenschaft wusste nahezu nichts von ihrem natürlichen Leben. Inzwischen ist bekannt, dass sich die Huftiere in ihrem Territorium Trampelpfade anlegen. Und dass sie ihr Revier - anders als Hauspferde - „bis zum letzten“ verteidigen. „Przewalskis gehen ruppig miteinander um“, hat Scheibe beobachtet. Einen gemeinsamen Feind wie Hund oder Fuchs greifen sie an.

Noch entspricht das Leben im Semi-Reservat nicht völlig natürlichen Bedingungen - das ist auch den Wissenschaftlern bewusst.

Bislang bilden acht Stuten mit einem sterilisierten Hengst eine sehr zusammengewürfelte Familie. Für mehrere soziale Gruppen ist das Gelände zu klein. Gern würde Scheibe die Tiere daher auf einem großen, zusammenhängenden Gebiet in Brandenburg auswildern.

„Zwei oder drei soziale Gruppen hätten wir gern auf dem Truppenübungsplatz in Lieberose angesiedelt“, erklärt er. Der Platz wäre mit seinen 30 000 Hektar groß genug, um sogar auf einen Zaun verzichten zu können. Doch Naturschützer und Jäger haben Scheibes Pläne bislang verhindert. Die Befürchtung: Die wilden Pferde könnten die empfindliche Natur zerstören und seltene Insekten gefährden.

www.wildpferdgehege-liebenthal.de

Theresa Münch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })