Landeshauptstadt: „Im Fortunaportal war unser Eingang“
Ingrid Semmrich und ihre Familie lebten bis zum Bombenangriff 1945 im Stadtschloss – als ganz normale Mieter
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Zur Wohnung führte eine Treppe hinter der Tür rechts im Fortunaportal, die Kammer neben der Küche grenzte direkt ans Badezimmer von Königin Luise, und als die Sirenen in Potsdam Bombenalarm heulten, versteckte sich Ingrid Semmrich zwischen den gigantischen Holzfässern im früheren Weinkeller der Preußenkönige: Die heute 80-Jährige war eine der letzten Bewohnerinnen des Potsdamer Stadtschlosses – und sie verfolgt das Schicksal des Baus bis heute. Auch zum Richtfest des neuen Landtagsschlosses am Donnerstag will die gelernte Schneiderin kommen. „Dass ich das noch erlebe, finde ich besonders schön“, sagt Ingrid Semmrich, die seit 50 Jahren in Berlin-Tempelhof lebt.
Acht Jahre alt ist sie, als sie am 1. Oktober 1939 mit ihren Eltern aus Könnern an der Saale nach Potsdam zieht – an die erste Adresse am Alten Markt, vis-à-vis der Nikolaikirche, in den Nordflügel des Stadtschlosses: „Im Fortunaportal war unser Eingang.“ Als besonders herrschaftlich hat sie die Bleibe allerdings nicht in Erinnerung: „Das war eine ganz normale Altbauwohnung, drei Zimmer, Küche, Kammer und Bad.“ Die wenigen Fotos, die Semmrich geblieben sind, zeigen das Mädchen mit Spielgefährtinnen oder ihrer kleinen Schwester auf dem leeren Innenhof des Schlosses, dessen Mauern da schon bessere Zeiten gesehen haben.
Denn das Stadtschloss ist bereits mehr als zwei Jahrzehnte kein Königsdomizil mehr – der frühere Preußenkönig und deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte bekanntlich 1918 abgedankt und lebte mittlerweile im Exil im niederländischen Doorn. Ingrids Vater, Max Nitsch, der vorher in Könnern als Stadtgärtner gearbeitet hatte, war nach Potsdam versetzt worden und bekam dort eine Stelle als „Schloßaufseher“ – so steht es im Mietvertrag über die Wohnung „im Hause Stadtschloß Potsdam, Am Fortunaportal 1“, den Nitsch mit dem Direktor der staatlichen Schlösser und Gärten als Vermieter geschlossen hat.
Viele Bücher habe er gewälzt, um sich auf die Schlossführungen für Besucher vorzubereiten, erinnert sich Ingrid Semmrich: „Aber dazu ist es dann nicht gekommen.“ Denn es war Krieg. Nur Tage vor dem Umzug der Familie nach Potsdam hatte Hitler den Angriff auf Polen befohlen – der Auftakt zum Zweiten Weltkrieg, zu dem später auch Ingrids Vater eingezogen wurde.
453,24 Reichsmark pro Monat zahlten die Nitschs laut Vertrag für ihre Drei-Zimmer-Wohnung mit Küche, „Bad mit Abort“, Kellergelass und einer gemeinschaftlichen Waschküche – ein gepfefferter Preis. Zum Vergleich: In den damals neu errichteten Genossenschaftswohnungen am Schillerplatz betrug die Quadratmetermiete im Jahr 1939 gerade mal 80 Reichspfenning, für eine der 37 Quadratmeter großen Wohnungen zahlte man knapp 30 Reichsmark Miete.
Aber die Nitschs waren nicht die einzigen Schlossbewohner. Ingrid Semmrich erinnert sich an ein Ehepaar, das Parterre gewohnt hat, an eine Familie, die im Flügel zum Lustgarten untergekommen war, und an Frau Holzschmidt, eine alte Dame, die dem Mädchen damals „wie eine Zofe“ vorkam und die sich offenbar rührend um die Kinder – Ingrids jüngere Schwester kam 1940 zur Welt – gekümmert hat – „ganz lieb und zart“.
Sogar eine „Hausordnung für die Wohnungen im Stadtschloß Potsdam“ gibt es, aufgesetzt 1930. Die Treppenreinigung oder das Schneefegen sind darin ebenso geregelt wie Anweisungen zur „Lärmverhütung“: „Türenwerfen, lautes Treppenlaufen, Gehen in Holzpantinen, Singen und Schreien auf den Treppen und Fluren“ sollen die Mieter vermeiden. Auch bei der Gestaltung ihrer Wohnungen gibt es strenge Vorgaben: Aus den Fenstern darf keine Wäsche gehängt werden, selbst Blumentöpfe auf den äußeren Fensterbänken sind tabu. „Zum Anbringen von Fensterschmuck, Schildern und Hochantennen muß vorher die schriftliche Erlaubnis des Vermieters eingeholt werden“, heißt es weiter.
Trotz des Krieges hat Ingrid Semmrich gute Erinnerungen an ihre Zeit in Potsdam: Sie erzählt vom Kaufmann am Alten Markt, der sich über ihren „sächsischen“ Akzent amüsierte, von Sonntagsspaziergängen im Park Sanssouci oder von den Schulstunden in der heutigen Kleist-Abendschule in der Friedrich-Ebert-Straße – und davon, wie ihr Matheheft mit einer schlechten Note beim Heimweg „aus Versehen“ in den Stadtkanal segelte. Ihre Klassenkameraden hätten sie wegen der Wohnung im Schloss nie aufgezogen, kamen oft zum Spielen vorbei. „Das hat keinen besonderen Eindruck gemacht.“ Ganz anders als die prachtvollen Hochzeitsgesellschaften vor der Nikolaikirche, die das Mädchen vom Fenster aus beobachten konnte – und dann ins Träumen geriet: „Ich hab immer gedacht, vielleicht könntest du hier auch mal heiraten“, erinnert sie sich.
Aber dazu wird es nicht kommen. Am 14. April 1945 muss Ingrid mit ihrer Mutter und der Schwester wieder einmal in den Weinkeller, der als Luftschutzraum diente. Von den Bomben, die auf Potsdam fallen, hören sie dort keinen Laut: „Die Wände müssen irrsinnig dick gewesen sein.“ Als sie den Keller wieder verlassen, wird das Ausmaß der Zerstörung schnell klar: „Wir haben gesehen , wie alles brannte“. Während die Seitenflügel noch halbwegs intakt sind, ist die Wohnung der Nitschs komplett ausgebombt.
Mit einem Lastwagen werden sie zum Neuen Palais gebracht, wo sie eine Nacht unterkommen. Danach wohnen sie bei einer Frau unweit des Palais’ in Untermiete – bis sich nach Kriegsende ein freundlich gesinnter russischer Offizier findet, der die Familie – der Vater ist immer noch nicht aus dem Krieg zurück – zu einer Cousine nach Berlin-Steglitz bringt, obwohl das verboten war. „Wir sind im offenen Planwagen die Königsstraße hoch, unsere Mutter vorne, wir Kinder hinten“, erinnert sich Ingrid Semmrich.
Potsdam wird die gelernte Schneiderin und langjährige Modeverkäuferin erst Jahrzehnte später wiedersehen. Von der Sprengung des Schlosses erfährt sie aus der Zeitung – das sei ein „komisches Gefühl“ gewesen. Mittlerweile kommt Ingrid Semmrich wieder öfter nach Potsdam: Etwa einmal im Monat macht sie einen Ausflug, gemeinsam mit ihrer Tochter. Auch beim Richtfest des Landtags am Donnerstag ab 18 Uhr will sie dabei sein. Den jüngsten Streit um Detailfragen wie die barocken Fenster oder die Dachschrägen kann sie nicht nachvollziehen. „Das Schloss ist ein Symbol für Potsdam und es ist toll, dass es wieder entsteht.“
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