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70 Jahre Befreiung vom Faschismus: Im Keller

Am 27. April 1945 wurde Potsdam durch die Sowjet-Armee befreit. Eine Zeitzeugin erinnert sich an den Tag – und an die Zeit danach bis zum Kriegsende.

Stand:

Für Ursula Weyrauch, geborene Findeisen, ist der 27. April 1945 nicht der Tag der Befreiung. „Potsdams Ende“ nennt sie den Tag, wenn sie von ihren Erinnerungen an das Kriegsende erzählt. Erst im Januar 1945 war die damals Achtjährige aus Kattowitz nach Potsdam gekommen. Ein spirreliges Flüchtlingskind mit Mutter und großer Schwester Inge. In der großelterlichen Wohnung – der verstorbene Großvater war Pastor der Bekennenden Kirche gewesen – kamen sie unter, wohnten in der Augusta-Straße, die heute Weinbergstraße heißt.

Im Kohlenkeller des 300 Jahre alten Hauses hatten sie schon die Bombennacht vom 14. April überlebt. Zwar waren die Fensterscheiben der Wohnung danach zerstört, sonst aber war das Haus unbeschädigt. Ende April wird der Keller fast zum ständigen Aufenthaltsort der kleinen Familie. „Wir hatten ein Chaiselongue für die Großmutter dort aufgestellt, wir Kinder saßen auf Rosshaarmatratzen“, erzählt Ursula Weyrauch. Durch kleine Fensterluken dringt nur wenig Tageslicht. Die Angst vor den Russen beherrscht sie – die Nazis erzählten gruselige Dinge, abartig seien die, würden Menschen fressen.

Auf einmal stehen die Russen im Keller

Das Dauerfeuer der heranrückenden Russen nennt man damals Stalinorgel. Stundenlang geht das. Gegen die Angst hat Ursulas Mutter eine Strategie, die sich schon während der Flucht aus Schlesien bewährt hat: „Sie sang immer mit uns, alle möglichen Kinderlieder“, sagt Ursula Weyrauch. „Ich hatte eine großartige Mutter.“ Die schleicht am 27. April noch einmal hinauf in die Küche – und bäckt einen Geburtstagskuchen für die Schwester Inge. Im Keller wird dann Geburtstag gefeiert, und immer wieder heißt es, schnell aufessen, damit die Russen nichts vom Kuchen abbekommen.

Dann stehen sie im Keller. Suchen zunächst nach Männern und stürzen sich dann auf Mutter und Großmutter. „Ich hatte ja keine Ahnung, was das bedeutete“, sagt Ursula Weyrauch. „Aber ich stürzte mich auf den Soldaten, der auf meiner Mutter lag, zog ihn an den Haaren und schrie wie am Spieß, wie in der Blechtrommel. Bis sie abhauten.“

Die Familie blieb im Keller des Hauses

Die Russen bestätigen zunächst einige Vorurteile, manche sehen fremdartig, mongolisch aus, haben keine Manieren. Doch sie bleiben. Besetzen die Wohnung der Familie Findeisen, machen daraus eine Anlaufstelle mit Kleiderkammer für ukrainische Zwangsarbeiterinnen. Die Mutter bindet sich Schürze und Kopftuch um, bekocht und bedient die neuen Machthaber – in ihrer eigenen Wohnung. „Wir wohnten weiterhin im Keller, im Hof waren Toilette und Wasserpumpe.“ Als sie nach einigen Wochen wieder zurück dürfen in die Wohnung, entdecken sie Kerben im guten Esstisch. Ursula Weyrauch sagt, die Soldaten hätten am Tisch gesessen, Heringe gegessen und für jeden Fisch einen Strich gemacht. Den Tisch gibt es noch – inklusive seltsamem Strichcode; als die Familie den Tisch restaurieren ließ, behielten sie die Kerben als Erinnerung an diese Zeit.

Als Ursula am 18. Mai neun Jahre alt wird, schafft es die Mutter wieder, aus dem wenigen, was es gibt, einen Kuchen zu backen. Aus Berlin kommt die Tante zu Besuch, mit einem Fahrrad. Das nehmen die Russen der Tante auf dem Weg kurzerhand ab. Und doch ist die Familie an diesem Tag glücklich – so erinnert sich Ursula. „Dass wir alle überlebt hatten und in dieser Geburtstagsrunde zusammensaßen, das war ein großes Glück.“

Die junge Ursula fährt den kleinen Wolfgang Joop im Kinderwagen herum

Die Nachkriegsmonate sind geprägt von der Notwendigkeit, Essen zu organisieren. Ursula, klein und schmächtig mit dünnen Zöpfchen, hat dann keine Angst mehr vor den Russen, stellt sich an der Gulaschkanone mutig zwischen die Soldaten und bekommt eine Kelle in ihren mitgebrachten Topf – „Grütze oder was auch immer das war“. Als im Haus gegenüber die russischen Soldaten Schmalzfleischdosen öffnen, sammelt sie sie leeren Dosen ein, die Mutter kratzt die Reste raus.

In Häusertrümmern findet sie einen Kinderroller, mit dem fährt sie nach Bornstedt. Dort kennt sie die Großmutter von Wolfgang Joop. „Frau Ebert hat mir dann immer eine Stulle geschmiert, dafür hab ich im Garten Unkraut gezupft. Oder den kleinen Wolfgang im Wagen gefahren.“

Viele der alten Nazis brachten sich um

Auch eine Kiste mit Kasperlpuppen findet sie in den Trümmern, spielt Theater in der Straße. Nein, sie habe sich damals keine Gedanken gemacht, wem das Spielzeug gehört hatte. „Als Kind hast du das nicht gecheckt“, sagt sie. Auch wenn sie einmal, noch in Kattowitz, mitbekam, wie ihre Eltern nachts Feindsender, BBC, hörten. Sie erschrak, sie wusste aus der Schule, das konnte lebensgefährlich sein. Der Vater nahm sie damals auf den Schoß und sagte: „Du bist jetzt erwachsen.“

In Potsdam führen die Erwachsenen Streitgespräche darüber, was man über die Nazigräuel hätte wissen können oder müssen. „Die Potsdamer in unserer Familie wussten Bescheid, wir aus Kattowitz, nur 30 Kilometer entfernt von Auschwitz, hatten keine Ahnung gehabt“, sagt sie. Viele überzeugte Nazis bringen sich in den letzten Kriegstagen und nach Kriegsende um, Ursula kann beobachten, wie man die Toten aus dem Haus gegenüber abholt.

Bis heute prägen diese Erlebnisse

Die Angst ist in den letzten Kriegswochen ein ständiger Begleiter. Beim Anstehen nach Lebensmitteln konnte es sein, dass Tiefflieger mit Scharfschützen plötzlich über Potsdam donnern. „Alle schmissen sich auf die Straße, und ich stand danach wieder auf – die Menschen rechts und links von mir nicht“, sagt sie. Es dauert einen Moment, bis man als Zuhörer versteht, was sie meint.

Bis heute prägen sie diese Erlebnisse, sagt Ursula Weyrauch. 79 Jahre ist sie alt, hat drei Kinder, acht Enkel, sieben Urenkel. Seit 1995 lebt sie wieder in Potsdam und wohnt mit ihrem Mann jetzt ganz in der Nähe des Hauses, in dem sie das Kriegsende erlebte.

Die jungen Leute fragen oft, wie es damals war, und sie erzählt gern. Das sei so wichtig, für beide Seiten. Sie erlebt heute, wie manche alte, demente Menschen von ihren schlimmen Erinnerungen eingeholt werden. „Die brüllen dann nachts im Schlaf ,Feuer’, und die jungen Schwestern im Altersheim wissen nicht warum.“ Sie selbst kann Gewitter nur schwer ertragen, Silvesterfeuerwerk, und sei es nur im Fernsehen, gar nicht. Dann überfalle sie eine furchtbare Angst.

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