
© T. Reichelt
Landeshauptstadt: Im Reich der Toten
Friedhofsverwalter Olaf Ihlefeldt steigt mit Kindern in die Gruft, um mit einem Tabu zu brechen
Stand:
So nah war Pauline in ihrem Leben dem Tod noch nie. Im Dunkel der Gruft unter dem Boden des Stahnsdorfer Friedhofs trennt die Neuntklässlerin nur eine dünne Zinkschicht und ein paar Zentimeter Holz von Friedrich Wilhelm Murnaus Leiche. „Gruselig“ sagt Pauline, als sie den staubigen Sarg mit den Fingerspitzen berührt, in dem der tote Horrorfilm-Regisseur liegt.
Alle paar Wochen steigt Friedhofsverwalter Olaf Ihlefeldt mit Kindern und Schülern in die Gruft hinab. Die Stufen sind schmal und rutschig. Licht gibt es nicht. Hier unten will Ihlefeldt mit einem weit verbreitetem Tabu brechen: Er will den Kindern das Thema Tod und Trauer näher bringen. Religionsunterricht im Reich der Toten.
Lehrerin Regina Bläsing hat sich lange Gedanken darum gemacht, wie sie ihren Schülern des Teltower Immanuel-KantGymnasiums den schweren Stoff vermitteln kann. Tod und Trauer gehörten zum festen Bestandteil des Religionsunterrichts in der neunten Klasse, sagt sie. Bevor sie mit ihren Schülern zum Friedhof ging, haben sie in der Schule Schwarzer Mann gespielt, eine Fangspiel, bei dem mit jeder Berührung einer mehr ins Reich der Toten wechselt. Auch einen Faden haben sie zu zweit zerrissen. Der Tote nimmt nicht alles mit, ein Stück Faden, also viele Erinnerungen, blieben zurück. Auch die Geschichte des sterbenskranken Jungen aus dem Buch „Oskar und die Dame in Rosa“ habe ihre Schüler sehr bewegt, sagt Bläsing. In seiner Krankenschwester findet der Junge im Roman die einzige Person, mit der er über seine Krankheit und den bevorstehenden Tod sprechen kann.
Mit einer Taschenlampe leuchtet Olaf Ihlefeldt in Murnaus dunkle Gruft hinein. „Keine Angst, Vampire gibt es hier nicht“, sagt Ihlefeldt und zeigt auf den verstaubten Sarg. „Die Leiche liegt da drin in ihrem eigenen Saft.“ Über der Holzkiste kleben himmelblaue Mosaiksteine an der Decke. „Sie symbolisieren die Verbindung der Seele zum Himmel.“
Seit fünf Jahren bietet der 45-jährige Friedhofschef die Führungen für Kinder und Schüler an. „Ich will ihnen meine Idee vermitteln, dass man auf dem Friedhof nicht traurig sein muss.“ Der Tod gehört zum Leben dazu. Doch viele seiner jungen Gäste seien noch nie in ihrem Leben ernsthaft mit dem Thema Tod in Berührung gekommen. Zwar hätten sie schon ihren Hamster oder Wellensittich begraben, aber nur die wenigsten eine Beerdigung eines Familienangehörigen miterlebt. Das auch, weil sie die Erwachsen da oft raushalten, sagt Ihlefeldt.
Auch Annegret ging das so. Die 14-Jährige ist eigentlich gerne auf dem Südwestkirchhof, um ihre Uroma zu besuchen. Sie liegt hier begraben. „Ich mochte sie“, sagt Annegret. Bei der Beerdigung war sie aber nicht dabei. „Das ist eigentlich schade, ich wollte das gerne miterleben.“
Mitschüler Willi hingegen war noch nie auf einem Friedhof. „Ich kenne auch keinen, der in meiner Familie gestorben ist“, sagt er und zuppelt an seinem Kapuzenshirt umher. Vielleicht auf einem Berg, sagt der Gymnasiast, möchte er später einmal begraben werden. Sein Kumpel Marcell hat sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Während Ihlefeldt die Gruppe an Gräbern von Christen, Juden und Muslimen vorbeiführt, fummelt der Neuntklässler an seinem Handy rum. Das Ding macht Probleme sagt Marcell und stolpert fast über eine Wurzel.
„Je jünger die Kinder, desto größer ist die Bereitschaft, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen“, sagt Ihlefeldt. Wenn die 13-, 14-Jährigen kommen, dann seien die „coolen Jungs“ dabei, die meist nur mit einem Ohr zuhören. „Sie meinen, im Unterricht alles gehört zu haben.“
Religionslehrerin Regina Bläsing hat trotzdem das Gefühl, dass der Friedhofschef die Schüler erreicht. „Die Jugendlichen in dem Alter sind gerade in einer großen Umwandlungsphase“, sagt sie. Aber sie machten sich Gedanken um den Tod. Den eigenen und den anderer. „Vielen war wichtig, dass ich sage, dass es einen Himmel gibt.“
Täglich werden auf dem Südwestkirchhof in Stahnsdorf Menschen bestattet. „Täglich sind es auch junge Menschen“, erklärt Ihlefeldt den Teltower Schülern. Kinder, die erst sechs oder sieben Jahre alt waren, oder Jugendliche nach einer schweren Krankheit sind darunter.
Der Friedhofsverwalter kennt viele positive Beispiele, wie er sich das Leben auf dem Friedhof vorstellt – das Leben und nicht den Tod. So habe ein junger Mann bei der Bestattung seiner Freundin ein Buffet am Grab aufgestellt, auch fröhliche Musik wurde gespielt. „Die junge Frau wusste, dass sie sterben wird und hat sich die Feier so gewünscht“, sagt Ihlefeldt. Das sei ein gesunder Weg, um mit Trauer umzugehen. „Wir müssen weiterleben, auch wenn jemand geht“, erklärt er den Neuntklässlern.
Nach über einer Stunde auf dem Friedhof bleiben Charlotte, Pauline und Annegret vor einem auffälligen Grab stehen. In einem Buddelkasten sitzt ein Teddybär, kleine Engel beten neben einem Herz aus Stein. „Die Sonne ging unter, bevor es Abend war“, ist dort eingemeißelt. Einen Monat und 15 Tage ist das Kind alt geworden, das hier begraben liegt. „Ich finde das total traurig“, sagt Charlotte. Betreten stehen die Mädchen um das Grab herum. „Ich glaube, man trifft die Toten wieder“, sagt Charlotte nach einer Pause. „Irgendwann bestimmt.“
Kinderführungen finden jeden zweiten Samstag im Monat um 14 Uhr statt. Außerdem für Schulklassen auf Anfrage unter Telefon (03329) 614106
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