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Neues Lebensgefühl. Tanzen mit Anne Gieske setzt bei Kranken Kräfte frei.

© dpa

Landeshauptstadt: Im Takt gegen Multiple Sklerose

In Potsdam haben schwer kranke Frauen eine Tanzgruppe gegründet

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Immer wieder aufstehen. Die Bewegung wird zum Maß aller Dinge. Vor allem für Menschen, die ein Handicap tragen, bei denen schon eine Drehung des Körpers oder eine Kniebeuge Schmerzen auslösen kann. „Das Leben ist zu kurz, um es zu vergeuden“, sagt Sybille Gutsch und zuckt mit den Schultern. Die frühere Lehrerin leidet an Multipler Sklerose (MS). Wer die heimtückische Krankheit hat, kann im Rollstuhl landen – Schicksal von knapp fünf Prozent der Betroffenen. Andere raffen sich auf und gehen wie die 51-jährige Potsdamerin auf die Tanzfläche.

Multiple Sklerose ist eine Krankheit mit 1000 Gesichtern: Erschöpfung, fehlende Motorik, Schwindelgefühl, Sehschwäche oder spastische Lähmungen. Rund 133 000 Menschen in Deutschland leiden an der unheilbaren Krankheit. Bei der Potsdamer Tanzgruppe „Pangea.unique dance“ stehen sieben Frauengesichter hinter der Krankheit. Am Wochenende hatte ihr neues Tanzstück „133 000 + 7 Gesichter“ Premiere im gläsernen Pavillon auf der Freundschaftsinsel. Doch der Weg dorthin war nicht leicht.

Wenn ein Schub kommt – so heißt die Phase, in der sich MS akut zurückmeldet – muss das Ensemble Ausfälle verkraften, erklärt Gutsch. Nicht alle Frauen können bei den Proben zwischen den Aufführungen dabei sein. Auch Gutsch ist nur eingeschränkt bewegungsfähig, hat einen Katheter im Arm. „Ich bin im Moment im akuten Schub, vollgepumpt mit Kortison“, sagt die Frau und lächelt. Es gehe ihr gut, weil sie das Medikament „Full Speed“ habe durchlaufen lassen. Gutsch wollte unbedingt pünktlich zur Probe da sein. Denn das Stück, das Tänzerin Anne Gieseke mit den Frauen einstudiert hat, funktioniert wie ein Uhrwerk an Bewegungen und lebt von Präzision.

Vier Stühle stehen in einer Reihe, je zwei gegenüber. Aufstehen, setzen, seitliche Körperdrehung. Die Hände greifen in die Luft, dann sind die Körper in einer lässigen Sitzhaltung völlig entspannt. Zu Beginn, bei der Trockenübung ohne Musik, wirken die Bewegungen roboterhaft. Doch als beim zweiten Durchgang elektronische Klänge die Abläufe untermalen, fließen die Bewegungen. Die Frauen müssen ihr inneres Metronom anstupsen, jeder Takt zählt für den richtigen Einsatz.

Das ist leichter gesagt als getan. Vor allem dann, wenn der Kopf nicht ganz frei ist, Schmerzen oder die Angst vor Schmerzen die Abläufe behindern. „Hetz’ mich nicht“, ruft Tänzerin Henrike Vogel. Der Spruch ist zum Teil der Inszenierung geworden. „Wir kommen immer mal wieder an diesen Punkt“, sagt Gieseke. Wenn etwas nicht gehe, werde es einfach geändert. „Beim Tanz gibt so viele Möglichkeiten der Bewegung.“

Im Jahr 2009 hatte sich das nach dem Urkontinent Pangea benannte Ensemble gegründet. Bis vor etwa 150 Millionen Jahren hingen die Landmassen noch zusammen. Für die Pangea-Frauen hat das eine symbolische Bedeutung. Der Urkontinent stellt eine Welt ohne Grenzen dar, ohne Barrieren und Geringschätzung.

Anfangs hatte Anne Gieseke, die an der Palucca Schule in Dresden Tanzpädagogik studierte und später im niederländischen Arnhem noch ein Studium für Choreografie und Bühnentanz absolvierte, Berührungsängste. Sie wusste nicht, welche Belastungen für MS-Kranke möglich sind und ob ihnen das alles auch gut tut. Inzwischen weiß sie, dass sie mit den Pangea-Frauen umgehen kann wie mit anderen Schülern auch. „Ich arbeite nicht therapeutisch mit den Frauen, sondern künstlerisch.“ Ganz nebenbei wirke das Tanztraining für die meisten körperlich wohltuend. „Wenn sie die Muskeln bewegen, sollen sie zumindest die richtigen bewegen“, meint Gieseke. „Die Frauen vertrauen mir. Ich kann viel geben und bekomme ganz viel zurück“, sagt die 27-Jährige.

Dass bei den Proben viel gelacht wird, ist ein schöner Nebeneffekt. „Wir lernen durch Tanz unseren Körper neu kennen. Diese Körperlichkeit bringt uns das Gefühl der Weiblichkeit, der Leidenschaft zurück“, beschreibt Gutsch das neue Lebensgefühl. Sybille Gutsch und die anderen sind dankbar dafür, dass Gieseke mit ihrer Arbeit den Betroffenen eine neue Welt eröffnet hat. „Wir stärken Ausdauer und Kognition. Wir trauen uns mehr zu, sind offener im Umgang mit unserer Erkrankung geworden, selbstbewusster. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir haben die Freude und das Lachen neu entdeckt.“ Übereinstimmend berichten die Frauen, dass der Tanz Beschwerden gemildert oder wenigstens stabilisiert hat. Manche haben sich erst jetzt einen Kindheitstraum erfüllt – den vom Tanzen.

„Es ist nicht selbstverständlich, dass MS-Kranke dieses vielschichtige Konstrukt zusammensetzen können“, sagt Tanzlehrerin Gieseke. Denn die Erkrankung habe Tücken, die ein Tanzen im künstlerischen Sinn fast unmöglich machen. „Es gibt MSler, die Felswände hoch klettern und mit dem Fallschirm springen“, sagt Gutsch. Aber von MS-Tänzern habe sie noch nie gehört.

Sybille Gutsch erhielt ihre Diagnose vor 14 Jahren, nachdem sie zwei Jahre lang ein Arzt zum anderen schickte. „Am Anfang war ich in einem Schockzustand, dann kam die Verdrängung, ich dachte: Die haben sich alle geirrt, mir geht’s gut.“ Sie machte weiter wie bisher. Es war ein langer Prozess, das anzunehmen. Im Moment, sagt Gutsch, sei sie mit sich im Reinen. „Ich sage mir: Die MS ist meine bucklige Verwandtschaft. Die habe ich mir nicht ausgesucht, die werde ich auch nicht mehr los. Deshalb muss ich sehen, wie ich mit ihr klarkomme.“ Heute nimmt Gutsch mehr am Leben teil als viele Zeitgenossen, die kein MS haben. (mit tor)

Jörg Schurig

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