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Landeshauptstadt: Immer verliebt muss man sein

Einst schwärmte sie für die Victorianer: Erika Zwanzig, mit 101 die älteste Teilnehmerin des Märchenkongresses

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Einst schwärmte sie für die Victorianer: Erika Zwanzig, mit 101 die älteste Teilnehmerin des Märchenkongresses Von Sabine Schicketanz Das beste Potsdamerisch spricht die Dame, ohne das berühmte Blatt vor dem Mund, und in ihren Augen blitzt dazu der Schalk. Einst hat Erika Zwanzig ihre Heimatstadt Hals über Kopf verlassen müssen, mit ihrem Mann flüchtete sie auf einem Lastwagen in den Westen. Losgelassen hat Potsdam sie aber nie, die Frau, die in ihrem Leben als Opernsängerin brillierte und als Musikhistorikerin Geschichte schrieb. Unglaubliche 101 Jahre und sechs Monate alt ist Erika Zwanzig heute – und damit ganz bestimmt die älteste Teilnehmerin des Märchenkongresses, der morgen in der Landeshauptstadt beginnt. Durch einen bloßen Zufall war sie 1964 Mitglied der Europäischen Märchengesellschaft e.V. geworden. Ihr Sohn Günter arbeitet damals im Kultusministerium in Mainz und hatte einen Antrag der Märchengesellschaft auf Fördergelder auf dem Tisch. Seine Mutter, wusste er, liebte Märchen, so schenkte er ihr zum Geburtstag die fünfjährige Mitgliedschaft. Aus den fünf Jahren sind mittlerweile fast 40 geworden, und Erika Zwanzig hat seitdem viel mehr getan, als Märchen nur zu lesen. Zwanzig Jahre lang hat sie akribisch daran gearbeitet, die Vertonung dieser besonderen Literatur zu dokumentieren. „Vertonte Märchen, Mythen, Sagen und Legenden“ heißt das Buch, das sie geschrieben und vor zehn Jahren noch einmal aktualisiert hat. 75 Vertonungen des „Dornröschen“ hat Erika Zwanzig gefunden, ebenfalls 75 des „Don Juan“, 43 von „Schneewittchen“ und 14 von „Hänsel & Gretel“. Insgesamt sind in ihrem Werk 8261 Kompositionen, 3239 Komponisten, unterteilt in 782 Sujets, aufgeführt. Ein Meisterwerk der Dokumentation, fand man auch in ihrer neuen Heimat Bayern. 1984 zeichnet man sie mit der Verdienstmedaille, 1993 mit der höchsten Ehrung, dem Bundesverdienstkreuz am Bande, aus. „Wenn ich meine Orden dann zum Empfang im Krongut trage, sehe ich ja aus wie ein General“, sagt Erika Zwanzig und lacht. „Aber das passt ja zu Preußen.“ Bei besagtem Empfang zum Märchenkongress wird man die Potsdamerin für ihr Wirken ehren – doch das ist sie mittlerweile gewohnt. „Überall werde ich erwartet“, meint sie. „Das finde ich sehr schön.“ Kein Wunder auch, schließlich sorgen ihre Vitalität, ihr Wortwitz und ihre Ausstrahlung im Zusammenhang mit ihrem Alter immer wieder für bewundernde und verwunderte Ausrufe. Dabei sei es so einfach, glücklich alt zu werden, sagt Erika Zwanzig: „Man muss nur immer verliebt sein.“ Gehe es ihr einmal nicht so gut, setze sie sich eben ans Klavier. „Dann spiele ich was Schönes und schon ist es vorbei.“ An die letzten hundert Jahre kann sie sich noch ziemlich gut erinnern. „Wenn ich dieses Brandenburger Tor sehe, bin ich gleich wieder ein junges Mädchen.“ Mit einem Körbchen voll Margariten habe sie damals dort gestanden und die Blumen verkauft, für den Luisenbund, der Dienstmädchen nach ihrer Heirat unterstützte. Blonde lange Haare hatte Erika Zwanzig, trug einen Florentinerhut und schwärmte für die Victorianer – die Jungs vom Elitegymnasium, das heute Helmholtz heißt. Geheiratet hat sie aber keinen Victorianer, sondern einen Berliner namens Walter. Am 20. September 1930 gab sich das Paar in der Garnisonkirche das Jawort – hier hatten schon Erika Zwanzigs Eltern sich trauen lassen – um sogleich nach England aufzubrechen, wo der frisch Angetraute für Siemens arbeitete. 1938 kehrten die Zwanzigs nach Potsdam zurück, wohnten in einem Unger-Haus in der Dortustraße Ecke Yorckstraße. Nach dem Krieg verließen sie Potsdam, denn jede Nacht, sagt Erika Zwanzig, seien die Russen gekommen. Sie hätten sie zwar mit Respekt behandelt, schließlich hatte sie einen Ausweis als Kulturschaffende, doch das Ehepaar entschied sich für die Flucht. „Nicht einmal meinem Vater durfte ich davon etwas sagen“, erinnert sie sich. „Ich habe meinem Potsdam kübelweise Tränen nachgeweint.“ Schließlich war die Stadt nicht nur ihre Heimat, hier hatte Erika Zwanzig, die zuvor an der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin Gesang und Musikgeschichte studierte, zu Kriegszeiten auch Konzerte gegeben. In der Kapelle des Luftwaffen-Kommandos aus Potsdam-Eiche hatte man, sagt sie, die berühmtesten Musiker untergebracht, damit sie nicht in den Krieg ziehen müssten. „Mit denen eine Oper zu singen, war exzellent.“ Auch mit Stars wie Marika Rökk trat sie in und um Potsdam auf. Das letzte Mal in der Landeshauptstadt war Erika Zwanzig, die nun schon seit langem in Erlangen lebt, vor drei Jahren. Was sich hier seitdem verändert hat, nahm sie gestern bei einer ausgiebigen Stadtrundfahrt unter die Lupe. Wird sie in ihre Heimat zurückkehren? „Wenn du hier wohnen würdest, würdest du Erlangen vergessen, habe ich mir schon mal gesagt“, meint sie. „Alles ist möglich.“ Und das Potsdamerisch hat sie schließlich auch nicht verlernt.

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