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M100-Medienpreis für "Charlie Hebdo": Immer wieder unerträglich

Das Satiremagazin "Charlie Hebdo" ist mit dem Medienpreis M100 in Potsdam geehrt worden. Chefredakteur Gérard Biard muss nun trotzdem Kritik wegen neuer Karikaturen einstecken.

Von Peer Straube

Stand:

Sanssouci - Gérard Biard hat zuletzt viel Schelte einstecken müssen. Mit den beiden Karikaturen über den toten Flüchtlingsjungen, der ertrunken an einem türkischen Strand angeschwemmt worden war, hat das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ bei vielen Menschen Sympathien verspielt und wurde auch von deutschen Medien scharf kritisiert.

M100-Medienpreis würdigt freie Meinungsäußerung

Umso wohltuender dürfte für den Chefredakteur des Pariser Blattes der gestrige Donnerstagabend gewesen sein. Stellvertretend für seine Zeitung wurde Biard beim internationalen Mediengipfel M100 von der Stadt Potsdam mit dem M100 Media Award ausgezeichnet – ein Preis, mit dem das Recht auf freie Meinungsäußerung gewürdigt wird. Am 7. Januar 2015 hatten islamistische Attentäter die Redaktionsräume des Magazins gestürmt und dabei insgesamt zwölf Menschen getötet. Dieser Anschlag sei nicht nur ein terroristischer Anschlag, sondern ein Anschlag auf die Pressefreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und damit ein Anschlag auf einen Grundpfeiler der Demokratie gewesen, sagte Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD).

Biard, der den Anschlag möglicherweise nur überlebt hat, weil er zum Zeitpunkt des Anschlags in London weilte, ist seitdem ständig von Leibwächtern umgeben. Entsprechend groß war auch das Sicherheitsaufgebot, unter dem die diesjährige Medienkonferenz im Orangerieschloss im Park Sanssouci stand. Besucher der Konferenz mussten scharfe Sicherheitskontrollen passieren, Dutzende Polizisten schirmten das Gebäude ab, auf dem Dach waren Scharfschützen postiert. Die Maulbeerallee war für den Autoverkehr vorübergehend gesperrt, was im Berufsverkehr Richtung Norden lange Staus zur Folge hatte.

Satire müsse Schock provozieren

Zwischenfälle gab es allerdings nicht. Jakobs lud Biard vor der Preisverleihung auf einen kleinen Spaziergang durch die Gartenanlage vor dem Schloss ein, danach gab es die obligatorische Pressekonferenz im Raffaelsaal. Auf Nachfragen der Journalisten verteidigte Biard die aktuellen Karikaturen in „Charlie Hebdo“. Satire müsse einen Schock provozieren, sagte er, andernfalls sei sie wirkungslos. Eine der umstrittenen Karikaturen zeigt die Leiche des im Alter von drei Jahren gestorbenen Jungen am Strand. Neben ihm steht ein Schild, das das Clown-Maskottchen der Fastfood-Kette McDonalds zeigt. Auf dem Schild steht auf Französisch: „Angebot: Zwei Kinder-Menüs zum Preis von einem.“ Die Karikatur ist überschrieben mit den Worten: „Willkommen, Flüchtlinge! So nah am Ziel ...“ Damit habe man deutlich machen wollen, dass der Westen den Tausenden Flüchtlingen außer Konsumkultur nichts zu bieten habe. „Man muss mit dieser Meinung nicht einverstanden sein, aber wer deshalb zum Mord aufruft, verwechselt Meinung mit Verbrechen“, sagte Biard.

Auch Jakobs nahm Biard gegen die Kritik in Schutz. Er sei zwar ebenfalls irritiert gewesen, bekannte der Rathauschef. Doch dürfe eine gute Satirezeitung nicht auf Sympathie aus sein. Satire, nahm Jakobs ein Tucholsky-Zitat auf, dürfe alles.

"Charlie Hebdo" werde weiter gebraucht

Das deutlichste Plädoyer lieferte der Rechtsanwalt und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach in seiner Laudatio. Der Preis an „Charlie Hebdo“ ehre die Toten und die Lebenden, sagte er. Dass Letztere nach dem „brutalsten terroristischen Anschlag in Frankreich“ der letzten fünf Jahrzehnte mit den Karikaturen weitergemacht hätten, „dafür verdienen sie jeden Preis und dafür verneige ich mich vor ihnen“, sagte von Schirach. „Charlie Hebdo“ sei „immer wieder unerträglich“ und genau darum werde diese Zeitung auch nach wie vor gebraucht.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) spannte in seiner Rede den Bogen von der Zeit der Potsdamer Konferenz, deren 70. Jahrestag das Thema des diesjährigen Mediengipfels bestimmte, zur aktuellen Situation in Europa. In Potsdam sei damals die Teilung und Neuordnung Europas beschlossen worden, sagte er. Heute sei die Welt auf der Suche nach einer neuen Ordnung. 60 Millionen Menschen seien weltweit auf der Flucht, so viele wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr, so Steinmeier. Dies stelle Europa aktuell an den Rand der Handlungsfähigkeit. Der Außenminister appellierte an die EU-Staaten, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen zu beteiligen. Das Recht auf Asyl sei nicht nur ein deutscher, sondern ein europäischer Grundwert.

Genscher mahnte zu mehr Solidarität

Auch Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), der die Konferenz am Vormittag per Videobotschaft eröffnet hatte, mahnte mehr Solidarität mit den Menschen an. Der 88-Jährige sprach von der „dringendsten Herausforderung für unsere Gesellschaften“. In seiner Rede zeichnete Genscher die Historie seit 1945 nach und erläuterte seine Vorstellung einer „Agenda für Europa und für die Welt“. Europäische und globale Herausforderungen könnten nur gemeinsam gelöst werden – und sicher nicht ohne oder gar gegen Russland, erklärte der Ex-Außenminister.

An dem Colloquium nahmen rund 50 Chefredakteure, Politiker und Historiker aus ganz Europa teil. (mit dpa)

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