Homepage: In fünf Tagen zum Rhein vorstoßen
Von der Konfrontation bis zur Vereinigung: Militärhistoriker über die deutschen Streitkräfte zwischen 1970 und 1990
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Schwungvoll stößt die Volksarmee, unterstützt durch sowjetische Truppen, über die innerdeutsche Grenze nach Westen vor. Auf nennenswerten Widerstand trifft sie nicht, schon nach fünf, spätestens sieben Tagen steht sie am Rhein. Diese „Idee“ entwickelte 1983 in Neubrandenburg der Befehlshaber der 5. NVA-Armee für eine mögliche Angriffsaktion. Sein Operationschef Oberst Siegfried Lautsch, nach der Wende als Oberstleutnant in die Bundeswehr übernommen, stellte die Planung aus dem „Kalten Krieg“ auf der 51. Internationalen Tagung für Militärgeschichte vor.
Die Tagung wurde vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) der Bundeswehr in der vergangenen Woche veranstaltet, Thema war „Auf dem Weg zur Wiedervereinigung: Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970-1990“. Dazu begrüßte Amtschef Oberst Hans-Hubertus Mack Fachhistoriker, Offiziere und Zeitzeugen aus zwölf Ländern. Die Streitkräfte beider deutscher Staaten, erklärte er, hätten einen wichtigen Beitrag zur Wiedervereinigung geleistet. Der lange Weg dorthin wurde auf der Tagung in 30 Beiträgen nachgezeichnet.
Die gegenseitige Absicherung – das „militärische Gleichgewicht“ – hätte bei den Großmächten zu einer Respektierung der Besitzstände geführt. Dies habe auch den Weg zu Ost-West-Verhandlungen und zur Entspannung geöffnet, legte in seinem Einführungsvortrag Professor Gottfried Niedhart (Mannheim) dar. Eine These, die durch zahlreiche folgende Beiträge unterlegt wurde. Das Spektrum der Themen reichte vom KSZE-Prozess und Rüstungsbegrenzungsverhandlungen über internationale Krisen, den NATO-Doppelbeschluss, Protestbewegungen, die den Kernwaffenkrieg simulierenden Wintex- und Hilex-Übungen bis hin zur Interessenpolitik der DDR in Namibia. Ein Auslöser für eine Krise war beispielsweise auch die Nato-Atomkriegsübung „Able Archer“ 1986.
Höhepunkt der Konferenz wurde die Abschlussdiskussion, für die die Organisatoren der Tagung hochrangige Zeitzeugen gewonnen hatten. Dabei würdigten der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière und der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Klaus Naumann die Fachkompetenz und die Umsicht, mit der der letzte Chef der NVA, Admiral Theodor Hoffmann, bei der Zusammenführung der NVA – Hoffmann sprach von Auflösung – mit der Bundeswehr gewaltsame Auseinandersetzungen und den Verlust von Waffen und Munition verhindert hatte. Professor Georges Henri Soutou (Sorbonne Paris) machte deutlich, wie sich neben Großbritannien auch Frankreich zunächst hartnäckig geweigert hatte, ein vereinigtes Deutschland zuzulassen, das es als machtpolitische Bedrohung empfand.
In der öffentlichen Abschlussdiskussion wurden die Zeitzeugen vom Publikum durchaus nicht als Ikonen behandelt, sondern mussten sich auch kritischen Fragen stellen. Mit Hinweis auf die unterschiedliche soziale Herkunft entzog sich Theodor Hoffmann routiniert der Frage des aus dem westfälischen Adel stammenden Generals a D. Friedrich von Senden, früher stellvertretender Chef des in Potsdam-Geltow stationierten Einsatzführungskommandos, wie er einem Unrechtssystem habe dienen können. General a.D. Naumann wurde nach seiner Aussage, bei der Planung von Atomangriffen habe man ab den 1980er Jahren stets den Schutz der DDR-Bevölkerung berücksichtigt, mit einer Planunterlage des Manövers Wintex-Cimex konfrontiert. Darin sind noch im Jahr 1989 Kernwaffenschläge auf acht Standorte in der DDR angegeben.
Der ehemalige Kanzlerberater Horst Teltschik sprach auf der Tagung von den Chancen, die bei der Wiedervereinigung genutzt und versäumt wurden. Der damalige Berater von Helmut Kohl erklärte, das Volk der DDR habe das ungeheure Tempo der Wiedervereinigung bestimmt, die schon 329 Tage nach dem Mauerfall vollzogen wurde. Zu den weitreichenden positiven Folgen zählten die Lösung des Ost-West-Konflikts, die Auflösung der Machtblöcke und das Scheitern der vom Marxismus-Leninismus bestimmten Staatlichkeit. Die deutsche Außenpolitik sei danach jedoch in „verlässlicher Harmlosigkeit“ stecken geblieben.
Deshalb würden heute noch wichtige Fragen wie eine europäische Sicherheitsordnung oder eine engere Verbindung mit Russland und dessen stärkere Einbindung in Europa auf ihre Lösung warten. Auf Probleme der inneren Einheit Deutschlands, die aus der Wiedervereinigungspolitik hervorgegangen sind, ging Horst Teltschik nicht ein, wie sie auch auf der gesamten Konferenz kein Thema waren. Erhart Hohenstein
Erhart Hohenstein
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