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Landeshauptstadt: In Gedanken Attentate auf Hitler

Das Leben von Wilhelm Stintzing ist ein Abriss deutscher Geschichte: Von Afrika bis in die Zukunft

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Wilhelm Stintzing verabschiedet gerade jemanden. Vor dem Haus winkt er einem Auto hinterher. Vielleicht war eine seiner Töchter bei ihm. Stintzing ist schlank und groß gewachsen. Aufrecht steht er da, drahtig, asketisch. Das mit dem langen Leben muss familiär bedingt sein, sagt er später. Drei seiner vier Geschwister leben noch, eine Schwester ist mit 93 Jahren sogar ein Jahr älter als er.

Spannend ist Wilhelm Stintzings Leben, weil er unter anderem mit dem Enkel des letzten deutschen Kaisers zwölf Jahre in dieselbe Klasse des Victoria-Gymnasiums ging, dem heutigen Helmholtz-Gymnasium. Oskar von Preußen wohnte in der Villa Quandt, Stintzing auf der Großen Weinmeisterstraße ein paar Schritte weiter in dem roten Backsteingebäude, das heute die evangelische Grundschule ist. Die Lehrerin sagte damals: „Die bescheidensten Stullen haben immer die Kinder des Prinzen“, des Sohnes Wilhelms II. also, der auch Oskar hieß und 1945 als letzter Hohenzollern Potsdam verließ.

Aber muss ein 92 Jahre alter Deutscher Anekdoten wie diese erzählen können, um interessant zu sein? Dass er und Klein-Oskar nicht immer Freunde waren, sich aber auch nie geprügelt haben?

Stintzing soll eigentlich erzählen, wie das mit dem Kaiserenkel war. Schnell aber ist klar, dass Wilhelm Stintzing nicht Fragen zu Oskar von Preußen beantworten muss. Sondern zu Wilhelm Stintzing selbst. Denn sein Leben ist eine Einbaumfahrt auf dem Meer der deutschen Geschichte. Die letzten hundert Seiten des Lehrbuchs deutscher Geschichte, das ist sein Leben.

Vor seinem inneren Augen breitet sich der Sternenhimmel über Afrika aus, wie er ihn als kleiner Junge sah. Solch sternenklare Nächte gibt es heute gar nicht mehr, sagt er. Mehrmals zitiert er, was Immanuel Kant Bewunderung und Ehrfurcht abverlangte: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“.

Stintzing wird am 28. Juni 1914 in der deutschen Kolonie Südwestafrika geboren. Am selben Tag fallen in Sarajewo die tödlichen Schüsse auf Erzherzog Franz Josef. Der Mord gilt als Auslöser des Ersten Weltkriegs, der Urkatastrophe, die Stintzings Leben fortan beugt wie die Sterne den Raum. Stintzing glaubt, dass Kaiser Wilhelm II. den Krieg nicht gewollt hat. Der Mord von Sarajewo sei – wie jetzt die beiden entführten israelischen Soldaten im Libanon – Auslöser für einen Krieg, „auf den sich alle eingestellt haben“.

Zehn Jahre vor Stintzings Geburt wütet auch in dem Ort Omaruru, wo sein Vater als Rechtsanwalt arbeitet, der deutsche Völkermord an den Hereros. „Das gehört zu den schlimmsten Dingen in der deutschen Geschichte“, sagt Stintzing. Deutsche Kolonialtruppen hatten die aufständischen Hereros in die Omaheke-Wüste getrieben, zehntausende verdursteten. Der deutsche Befehlshaber, General von Trotha, „war ein Schwein“, so Stintzing, der Verbindung hält zum heutigen Namibia. In seinem Wohnzimmer steht eine Puppe. Es ist eine Herero-Frau in bunten Kleidern.

Im Zuge des Ersten Weltkrieges geht Deutsch-Südwest an die Engländer, bis 1919 sind Stintzings in Swakopmund interniert. Dann kehren sie zurück nach Deutschland. „Wo ist denn hier der Schnee?“, fragt der Fünfjährige. Es ist Ende Juni. Deutschland ist für den Jungen ein weißes Winterwunderland und für alle Deutschsüdwestler der Ort projizierter Sehnsucht.

Ab 1921 geht Stintzing zur Schule. Sein bester Freund wird nicht Oskar, sondern Heinz, der Sohn des Direktors der Inneren Mission. Er wohnte auch an der Großen Weinmeisterstraße, in dem Haus an der Ecke zur Leistikowstraße, in dem später der sowjetische Geheimdienst KGB Menschen einsperrt. Zu den „tiefsten Eindrücken, die ich je gehabt habe“, gehört 1921 die Beerdigung der letzten Kaiserin Auguste-Victoria im Antikentempel vor dem Neuen Palais. Die Kaiserin hat man geliebt, sagt Stintzing.

Sein Abitur macht er vor dem 21. März 1933, die Zeugnisse gab es nach dem „Tag von Potsdam“. Vom Langen Stall aus beobachtet er die Szenerie, bei dem Hitler dann in der Garnisonkirche – in der Stintzing Jahre zuvor eingesegnet wurde – den preußisch-deutschen Staffelstab von Hindenburg übernimmt. Hitler sieht er mehrmals und jedes Mal ist er „nicht beeindruckt“. Womit er fast allein ist auf weiter Flur, denn nach dem Ersten Weltkrieg gilt Deutschland in der Welt „als der letzte Dreck“ und Hitler als der Mann, der das ändern kann. Stintzing wird später Zeuge, wie sich Soldaten ernsthaft eine ganze Nacht lang über die Frage unterhalten: „Ist Hitler mehr als Jesus?“

Er sieht Hitler mehrmals: In einem Theater in Berlin, noch vor der Machtergreifung als „kleinen Punkt, der schrie“ im Stadion am Luftschiffhafen und 1943 als Offiziersanwärter in der Jahrhunderthalle in Breslau. „Mensch Adolf, du merkst wohl selber, dass es nicht mehr weiter geht“ – so erinnert sich Stintzing heute, habe er damals über Hitler gedacht. Nicht gedacht aber hat er damals an ein Attentat. Im Gegenteil zu heute: „In Gedanken mache ich ständig Attentate auf Hitler“, sagt Stintzing entschlossen und lächelt.

Nach dem Abitur meldet sich Stintzing für ein halbes Jahr zum freiwilligen Arbeitsdienst. Bäume fällen in Ostpreußen, in Scheunen schlafen, sich waschen in Bächen. Er ist mit Arbeitern zusammen, bekommt Hochachtung vor ihnen. Karl Marx, sagt er, hatte einen kleinen Fehler: Er glaubte, wenn die Menschen im Kollektiv besser leben, würden sie auch im Kollektiv besser arbeiten. „Das ist nicht so.“

Den „irrsinnigen Sternenhimmel“ Afrikas vor Augen denkt Stintzing über „das letzte, nicht mehr hinterfragbare Geheimnis“ nach. Leute, die danach fragen, sind entweder Philosophen, Astrologen oder werden fromm. Ein Lehrer spottete einmal über die Pfarrer und über Dinge die ihm gut gefielen. „Da war mir klar, Pfarrer, das ist dein Beruf.“ Er studiert Theologie in Berlin, Tübingen und wieder Berlin.

1938 wird er Soldat, bei der bespannten schweren Artillerie in Spandau. Er riecht Pulverdampf beim Übungsschießen in der Döberitzer Heide. Für die Umgestaltung als Naturreservat durch die Sielmann-Stiftung spendet er heute Geld. Sein normaler Wehrdienst dauert nur ein dreiviertel Jahr. Ende August 1939 wird ihm im Wald bei Seeburg scharfe Munition ausgehändigt. Am 1. September überschreitet seine Einheit die Grenze zu Polen. Er ist bis Ende dabei; der Wehrmachtsangehörige Stintzing lässt vom Zweiten Weltkrieg keinen Tag aus, sechseinhalb Jahre lang. Schnell stoßen die Angreifer vor, schneller, als die von Pferden gezogenen Geschütze hinter her kommen. Oft feuern sie nicht, denn die eigene Truppe rückt häufig weiter vor, als die Geschosse fliegen können. Noch heute liebt Stintzing Pferde, um die er sich damals kümmert.

Im Frühjahr 1940 wird er nach Brandenburg an der Havel abkommandiert, zu einer Einheit „zur besonderen Verwendung 800“. Es ist die Keimzelle der späteren „Division Brandenburg“, des militärischen Arms der Abwehr unter Admiral Wilhelm Canaris. Deren Aufgabe sind Kommandounternehmen im feindlichen Hinterland, etwa zum Sprengen von Brücken, teils in der Uniform der Gegner. Viele „Ausland-Deutsche“ sind dabei, auch die aus Süd-Westafrika, zu denen Stintzing gehört. Er betreut Russen, die mit der Wehrmacht kollaborieren. Einsätze führen ihn an die Ost- wie die Westfront. 1943 wird Stintzing Leutnant, ein Offiziersrang, unvermeidlich für einen Studierten während des Krieges. In Italien werden die „Brandenburger“ gegen Partisanen eingesetzt. Die Waffen-SS begeht zahlreiche Massaker an der Zivilbevölkerung, wovon Stintzing nichts erfährt. Er erinnert sich: „Wir haben die SS gehasst.“ Der Nazi-Partei schließt er sich nicht an, weil er „als Pfarrer offen bleiben will für jeden Menschen“. Von Konzentrationslagern und Zwangsarbeitern kriegt der junge Mann etwas mit, nichts aber von Massenmorden. Nach dem Krieg herrscht großes Entsetzen. Stintzings Vater will es nicht glauben: „Deutsche tun das nicht“, sagt er.

„Doch Vater“, entgegnet der Sohn.

Im Januar 1943 macht Stintzing sein zweites Staatsexamen in Theologie. In einem dreiwöchigen Heimaturlaub büffelt er durch von früh bis spät. Das Kriegsende erlebt er in Österreich, nach kurzer amerikanischer Gefangenschaft kehrt er nach Potsdam zurück. Er steht auf dem Wilhelmplatz, heute Platz der Einheit, sieht auf das zerstörte Potsdam – und heult.

Eine Nottaufe ist seine erste Amtshandlung als junger Pfarrer in Bötzow, Kreis Oberhavel. Als der dortige Pfarrer aus russischer Kriegsgefangenschaft heimkehrt, wechselt Stintzing 1947 nach Groß Glienicke. Es lässt sich kaum eine andere Pfarrstelle vorstellen, in der die Nachkriegszeit und die deutsche Teilung intensiver und hautnaher zu erfahren ist, als dort. Für 20 Jahre ist Stintzing Pfarrer in zwei Besatzungszonen. Die Gemeinde dehnt sich über die Grenze zu Westberlin aus. Groß Glienicke wird in Ost und West geteilt und verschiedenen Machtblöcken zugeordnet. Wobei geografisch-politisch kurios in dem kleinen Ort „der ,Westen“ im Osten und der ,Osten“ im Westen“ liegt. Um in den „Westen“ zu kommen, fährt Stintzing mit dem Fahrrad ostwärts um den Groß Glienicker See herum. Als ein Schlagbaum im Dorf steht, wird es für die Gemeindemitglieder aus der Siedlung „Wochenend-West“ jenseits von See und Grenze immer schwieriger, zum Gottesdienst in die Groß Glienicker Dorfkirche zu kommen. Es entsteht „drüben“ ein eigener „Diskussionskreis“ – und die Idee für diesen ein eigenes kirchliches Gebäude zu errichten. „1950 fiel der Entschluss, 1951 wurde angefangen, 1953 war die Kapelle fertig“, resümiert Stintzing. Der „Ostpfarrer“ hatte es – mit vielen Helfern – geschafft, in Westberlin eine kleine Kirche zu bauen! Manchmal geht, was eigentlich nicht geht. „Das ist Wahnsinn! Ihr habt nichts, nichts, nichts!“ So waren die ersten offiziellen Reaktionen, erinnert sich das Kladower Forum in seinem Buch „Die Kapelle an der Grenze“. Doch die Idee hat sich festgesetzt: Es wird Land innerhalb der Gemeinde getauscht, jemand sagte, „ich schenke euch Schilf für das Dach“, die Trümmersteine kommen von der Ruine des Groß Glienicker Schlosses oder vom Spandauer Markt. Ständig muss Stintzing Transportgenehmigungen beantragen. Die Funktionäre sind aber kein Problem für Stintzing: „Ich habe vorher für die Betroffenen gebetet.“ Seine Freiheit habe sich so auf sie übertragen, glaubt er. Haben die aber doch „nein“ gesagt, hat er nachgehakt und gefragt: „Was raten Sie mir?“ Das ist ein Perspektivwechsel für den Amtsschimmel: „Der denkt dann um, der denkt dann für mich.“

Der Mauerbau 1961 trennt Stintzing für Jahrzehnte von der Schilfdachkapelle ab. Später wird er Pfarrer in der Waldstadt und auch Studentenpfarrer. 1979 emeritiert er und geht in Rente. Zehn Jahre später fällt die Mauer. Als entscheidende Zukunftstugend nennt Stintzing heute Vergebung und Versöhnung. Das gilt für Ost- und Westdeutschland ebenso wie für die Palästinenser.

Und die Antwort auf die letzten Fragen? Die hat Stintzing noch nicht gefunden. Die entferntesten Lichtpunkte, die die Menschen beobachten konnten, sind acht Milliarden Lichtjahre entfernt. Das heißt, das Licht dieser Objekte war schon drei Milliarden Jahre unterwegs, bevor die Erde überhaupt erst zu bestehen begann. Stintzing: „Das übersteigt all unser Vorstellungsvermögen.“ Albert Einstein und Max Planck, den er persönlich kannte, seien deshalb alle fromme Männer gewesen. Wie auch Immanuel Kant, der Philosoph unterm Sternenhimmel.

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