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Im Sowjet-Lager gestorben. Ulrich Freiherr von Sell auf einem Bild um 1940.

© privat

Landeshauptstadt: In zwei Diktaturen verfolgt

Widerständler Freiherr von Sell starb vor 66 Jahren in einem Lager der Sowjets

Stand:

Berlin-Dahlem am 7. Mai 1945. Ein sowjetisches Militärauto fährt vor dem Wohnhaus Am Hirschsprung 15 vor. In dem Fahrzeug sitzt ein Deutscher, begleitet von sowjetischen Militärangehörigen. Der Trupp klingelt. Hausherr Ulrich Freiherr von Sell erscheint, er soll mitkommen. Der in Begleitung der Sowjets an Sells Tür erschienene Deutsche ist offenbar in großer Not. Ihm drohe die Erschießung, denn er soll ein hoher Nazifunktionär gewesen sein. Sell als sein ehemaliger Vorgesetzter auf einer Kriegsdienststelle möge diesen Verdacht entkräften. Er müsse dem sowjetischen Geheimdienst NKWD eine entlastende Aussage zu Protokoll geben – und soll dafür sofort mitkommen. Sell zieht sich eine leichte Jacke an und steigt in das Militärfahrzeug, um die Angelegenheit hinter sich zu bringen. Doch er wird nie wieder zu seiner Familie zurückkehren.

Ein halbes Jahr später, am 12. November 1945, also heute vor 66 Jahren, stirbt Sell völlig entkräftet im sowjetischen Internierungslager Jamlitz bei Lieberose. Seine Familie ist lange Zeit im Ungewissen über sein Schicksal. Das letzte Lebenszeichen ist eine handschriftliche Nachricht, die Sell am 31. Mai in Werder/Havel auf die Rückseite eines Bankformulars schreibt. Man verhöre ihn fortwährend, glaube ihm aber nichts, ist da zu lesen. Die Nachricht erreicht die Familie erst im Juli 1945. Ein Unbekannter hatte den Kassiber in den Hausbriefkasten geworfen. Zu dieser Zeit ist Sell bereits in Jamlitz inhaftiert, was die Familie aber nicht weiß. Vom Tod ihres Mannes erfährt die Witwe schließlich durch den Schauspieler Gustav Gründgens, der im selben Lager inhaftiert war.

Sell geriet offenbar wegen seiner Tätigkeit in der Auslandsbrief-Prüfstelle in die Fänge der Sowjets. Seit 1939 war er in dieser Behörde beschäftigt, 1942 wurde er seines Amtes enthoben. Denn Sell hatte Menschen zu schützen versucht, indem er sie für unabkömmlich erklärte. Auch verwahrte er sich gegen Versuche des Sicherheitsdienstes und der Gestapo, Einfluss auf die Arbeit der Auslandsbrief-Prüfstelle zu nehmen. Dieses Verhalten Sells war offenbar der Grund für seine Abberufung vom Amt des Leiters der Auslandsbrief-Prüfstelle.

Sell, der im zivilen Leben zuvor die Privatschatulle des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. verwaltet hatte, widmete sich nun insgeheim der von Generaloberst Beck geführten Widerstandsbewegung in der Wehrmacht. Er hatte engen Kontakt zu den Widerstandskreisen in der Abwehr, insbesondere zu Admiral Wilhelm Canaris, Oberst Hans Oster und zum Adjutanten Stauffenbergs, Werner von Haeften. Sell nahm an Beratungen der Widerständler im Kriegsministerium in der Bendlerstraße teil. Nach den Plänen der Attentäter um Stauffenberg war vorgesehen, dass Sell im Falle der Tötung Hitlers als Verbindungsoffizier der Widerständler im Wehrkreis Kassel fungieren sollte. Bereits einen Tag nach dem gescheiterten Hitler-Attentat wurde Sells Haus durchsucht. Der Hausherr selbst hielt sich an diesem Tag außerhalb Berlins auf. Bei seiner Rückkehr am 23. Juli 1944 wurde er sofort verhaftet.

Sein Sohn Friedrich-Wilhelm von Sell erinnert sich an ein Gespräch aus dem Jahre 1943, in dem ihm sein Vater andeutete, es könne im Frühjahr 1944 zu einem radikalen Umsturz kommen. Er habe damals als 17-Jähriger darauf keine Nachfrage gewagt, so Friedrich-Wilhelm von Sell. Sein Vater habe der Familie damals aus Vorsicht keine „Einzelheiten über die Pläne der Verschwörung“ mitgeteilt. Von der Familie sei aber freilich bemerkt worden, dass der Adjutant Stauffenbergs, Werner von Haeften, „oftmals im Schutz der Dunkelheit nach Dahlem herauskam“ und mit seinem Vater „hinter verschlossener Tür lange Gespräche führte“.

Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo wird Sell in das Gefängnis in der Lehrter Straße gebracht. Dort wird er in Einzelhaft gehalten, bevor man ihn am 30. März 1945, also kurz vor der Eroberung Berlins, ohne Begründung entlässt. Doch die wiedergewonnene Freiheit währt nicht lange: Am 7. Mai fährt der Militärwagen vor und Sell wird von den eigentlich als Befreier nach Deutschland einmarschierten Sowjets verhaftet.

Friedrich-Wilhelm von Sell, der in Potsdam geboren wurde, hat das Schicksal seines Vaters immer beschäftigt. Über die Jahre hinweg trug er Informationen über dessen Leben zusammen. Auch in der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand sind einige Lebensstationen Ulrich von Sells dokumentiert.

Bereits zu DDR-Zeiten, am 20. Juli 1984, konnte in Anwesenheit Friedrich-Wilhelm von Sells auf dem Bornstedter Friedhof ein Gedenkstein für seinen Vater aufgestellt werden. Der heutige Gedenkstein auf dem Familiengrab nahe der Bornstedter Kirche ist jedoch jüngeren Datums. Der Regisseur Bengt von zur Mühlen, den Friedrich-Wilhelm von Sell aus seiner Zeit als WDR-Intendant kannte, trieb in den 90er Jahren in Russland die sowjetische Akte über Ulrich von Sell auf. Daraus ergab sich, dass Ulrich von Sell nicht, wie erst angenommen, im Dezember 1945, sondern bereits am 12. November in Jamlitz verstarb. Der Gedenkstein wurde daraufhin geändert und mit einem kleinen Text versehen.

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