Homepage: Individuell und nicht linear
An der Universität treffen sich derzeit 400 Forscher, um Forschungsergebnisse zu Leseprozess und Augenbewegung auszutauschen
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„In der Klosterschule herrschen Schwester Agathe und Schwester Maria.“ Der Satz flimmert über das Laptop von Prof. Ralf Engbert von der Universität Potsdam, dann erscheint ein kleiner krakeliger Strich unter den Wörtern, dreht unter Klosterschule und Schwester je zwei Pirouetten, um zum nächsten Wort weiter zu wandern. Bei Klosterschule verweilt er 308 und 156 Millisekunden, bei Agathe nur 208, am Schluss bei Maria dann aber noch einmal 332 Millisekunden.
Der Strich ist die Aufzeichnung einer Lesebewegung und macht deutlich, dass Lesen kein linearer Prozess ist. Das Auge springt von Wort zu Wort, überspringt sogar kurze Worte, um dann doch noch einmal zu einem komplizierteren Wort zurückzuwandern. Diese Erkenntnis zur Augenbewegung ist nicht neu. Neu allerdings ist, dass die Forschung die Bewegungen des menschlichen Auges nun in Computermodellen simulieren kann, um so Nutzen für die Medizin, die Unterrichtsforschung aber auch die Werbeindustrie zu gewinnen. In Potsdam treffen sich in dieser Wochen rund 400 Forscher aus den verschiedensten Disziplinen, um von der Grundlagenforschung aus über mögliche Anwendungen nachzudenken.
Während sich in den Tagungsräumen zur 14. European Conference on Eye Movements Psychologen, Physiologen, Neurologen und Mediziner mit Informatikern, Ingenieurwissenschaftlern und Marketingforschern austauschen, kommen aus dem Computerlabor Menschen mit merkwürdigen Verkabelungen an den Brillen. Offensichtlich wird auch während der Tagung geforscht. In den Räumen unter dem Audimax haben mehrere Firmen ihre Stände aufgebaut, sie zeigen, was heute schon mit so genannten Eye-Tracking-Systemen möglich ist. Futuristische Maschinenbrillen erfassen sofort die Pupillen der Versuchspersonen und heften sich untrüglich an ihre Bewegungen, um herauszufinden, wie sie Zeitung lesen, was bei Computerspielen passiert, ob Zugführer konzentriert und reaktionsschnell sind, welche Blickzonen im Auto am meisten genutzt werden, und wohin der Blick der Kunden bei der Werbung fällt.
Andere Anwendungen liegen wie eingangs erwähnt in der Untersuchung des Leseprozesses. Wie Prof. Ralf Engbert von der zusammen mit Prof. Reinhold Kliegel (ebenfalls Uni Potsdam) erläutert, geht es um die Frage, wie die Menschen ihren Blick beim Lesen steuern. Erkenntnisse auf diesem Gebiet könnten dann zu einer Optimierung des Lernprozesses in den Schulen genutzt werden. „Wir wollen wissen, wie man optimal und gut liest“, erklärt der Juniorprofessor für Psychologie. Von Interesse sei auch das veränderte Leseverhalten im Alter. Während der Durchschnitt 20 bis 30 Prozent der Wörter überspringe, sei diese Quote im Alter höher, dafür werde aber auch häufiger zurückgesprungen.
Da das Auge nur im Zentrum des Blicks ein scharfes Bild liefert, sind die Augen permanent in Bewegung. Ein Punkt wird für Sekundenbruchteile fixiert, dann springen die Muskeln mit einer ruckartigen Bewegung – der so genannten Saccade – zu einem nächsten Punkt. Aus diesem Abtasten wird schließlich das Gesamtbild zusammengesetzt. Bei ruhiger Betrachtung dauern die einzelnen Fixationen 0,2 bis 0,6 Sekunden, in einer Sekunde können zwei bis fünf Saccaden stattfinden. Bei schnellerem Blicken können die Saccaden häufiger und die Fixationszeiten kürzer sein. Grundlegend kommen die Forscher zu dem Schluss, dass Lesen ein höchst individueller Prozess ist. „Nicht alle lesen gleich“, stellt Prof. Engbert fest.
Die Forscher müssen die Interaktion von zwei Systemen verstehen, eines das die Bilder der Außenwelt sammelt (Auge) und ein zweites, das sie konstruiert und interpretiert (Gehirn). Hier setzt auch die Psychiatrie an. Messsysteme für Augenbewegungen können nach Einschätzung von Prof. Wolfgang Zangenmeister von der Uniklinik Hamburg bei Erkrankungen helfen. So könne etwa bei Schlaganfallpatienten eine Therapieform für die Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes entwickelt werden. Über die Messung der Augenbewegungen lasse sich auch bei Parkinson-Patienten feststellen, wie wirksam bestimmte Medikamente sind.
„Das Gehirn ist eine Interpretationsmaschine für die Umwelt“, erklärt Zangenmeister. Allerdings dürfe man nicht vergessen, dass das Sehen auch ein hochgradig emotionaler Prozess ist. So haben die Forscher festgestellt, dass die emotionale Gebundenheit von Augenbewegungen sogar im Schlaf besteht. „In bestimmten Schlafphasen fixieren die Augen die Traumbilder“, lautet Zangenmeisters verblüffende Erkenntnis.
Für Marketingstrategen dürfte das allerdings Traumtänzerei sein. Vor allem die Medienindustrie dürfte mehr interessieren, dass Blickmessungen sehr präzise erfassen können, womit sich der Geist gerade beschäftigt. So wisse man mittlerweile ziemlich genau, wie eine Internetseite für bestimmte Ziele aufgebaut werden sein sollte, erklärte Dr. Sebastian Panasch von der TU Dresden. Texte dürften nicht den ganzen Bildschirm einnehmen, sondern in Spalten aufgeteilt werden, um lesbar zu sein. Und natürlich bedarf es Bilder: die fangen jedes Auge.
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