zum Hauptinhalt
Angekommen. Polina Aronson will in Deutschland bleiben.

© Andreas Klaer

Homepage: Ins deutsche Utopia

Die Sozialwissenschaftlerin Polina Aronson untersuchte als Stipendiatin des Einstein Forums Biografien von russischen Aussiedlern

Stand:

„Du bist so hübsch, du bist für den Export bestimmt“, rief die Großmutter von Polina Aronson euphorisch, als sie das frisch geborene Mädchen in den Armen hielt. Der Satz findet sich in dem Romanfragment, aus dem Polina Aronson am Dienstagabend im Einstein Forum vorlas. Die aus Russland stammende Stipendiatin des Einstein Forums beabsichtigt, ihre abgeschlossene Promotion als Prosa zu vervollständigen. „Als ich mit der wissenschaftlichen Arbeit fertig war, wurde mir klar, dass ich all die Geschichten, die ich gehört hatte, weitererzählen musste“, sagt die 33-Jährige im Gespräch. Anhand von etwa 50 Interviews hat Aronson die Ideen und Vorstellungen untersucht, mit denen russische Immigranten nach Deutschland übersiedeln. Aronson hat in der Zeit von 15. August 2013 bis 15. Januar 2014 im Rahmen ihres Stipendiums an ihrem Forschungsvorhaben im Einsteinhaus Caputh gearbeitet.

„Die wissenschaftliche Form wird dem Individuum oft nicht gerecht“, sagt Aronson. Deshalb wollte sie zunächst aus dem Gehörten Kurzgeschichten destillieren. Schließlich aber entschied sie sich, eine durchgängige Geschichte zu erzählen und die einzelnen Schicksale in einem Roman zu verweben. Ihre Heldin ist Julia. Sie schwärmt schon früh von Deutschland und entwickelt eine Sehnsucht nach dem Land, in dem alle gleich behandelt würden und niemand unter Ungerechtigkeit leiden müsse. Das Land, in dem das Verb immer am Ende des Satzes steht und der Bus immer pünktlich komme. Dorthin will Julia aussiedeln.

„Den prototypischen russischen Aussiedler gibt es nicht“, erklärt Aronson. Jeder habe ein ganz eigenes Schicksal. Aussiedler aus Russland, die einen deutschen Familienteil in ihrem Stammbaum nachweisen konnten, seien stets offiziell mit offenen Armen begrüßt worden. Sie hätten nach der Übersiedlung unmittelbar Zugang zum deutschen Sozialsystem erhalten. Für andere sei es schwieriger gewesen, von Russland nach Deutschland zu kommen. Vielen sei Deutschland wie ein fernes Utopia erschienen. Angekommen wollten sie auf jeden Fall „richtige“ Deutsche werden. Denn außerhalb der Sowjetunion liege das Land, wo jeder für seine Anstrengungen angemessen belohnt wird, sagt die Protagonistin des Romans Julia. Sie assoziiert das Land mit einer idealisierten deutschen Familie, die sie in einem Schulbuch kennengelernt hatte.

Natürlich habe der geplante Roman viele autobiografische Teile, räumt Aronson ein. Die „Romantisierung von Deutschland als Land der Utopien“ fand sie nicht nur in den Interviews, die sie für ihre Abschlussarbeit geführt hat, sondern auch in ihrer eigenen Familie. Ihre Großmutter habe keine sonderlich hohe Meinung von dem zerfallenen russischen Sowjetstaat gehabt und diese auch laut artikuliert. Die Welt außerhalb der UdSSR sei für die Großmutter der Gegenpol gewesen. Obwohl die promovierte Physikerin Turbinen gebaut und einen durchaus nüchternen Blick auf die Welt gehabt habe, sei Deutschland ihr als Sehnsuchtsort erschienen. Anteil am positiven Deutschlandbild Aronsons habe möglicherweise auch ihr Großvater gehabt, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Leipzig als Drucker arbeitete. Er meinte in der DDR ein sozialistisches Musterland vorzufinden. Eine kleine Goethebüste stand stets auf seinem Schreibtisch.

Die Lebensläufe ihrer Vorfahren seien für ihre Biografie wichtig gewesen, so Aronson. Das Fernweh und der Wunsch, fremde Länder kennenzulernen, habe ihr bisheriges Leben geprägt. Schon mit acht Jahren erhielt sie Englischunterricht. Der ermöglichte es ihr, schon als Schülerin ein Stipendium für die USA zu bekommen. Sie spreche erheblich besser Englisch als Deutsch, sagt Aronson. Deshalb schreibe sie auf Englisch. Das Romanfragment sei zum Vorlesen übersetzt worden.

Nach einem Soziologiestudium in St. Petersburg erhielt Aronson ein Stipendium in Freiburg. Ihren Mann, einen Deutschen, hatte sie in Petersburg kennengelernt. Weil der Politikwissenschaftler dann in England studierte, sei sie längere Zeit zwischen London und Freiburg gependelt. Das sei ein typisches Immigrantenleben gewesen, sagt Aronson.

Als sie dann endgültig in Deutschland angekommen war, musste Aronson erkennen, dass nicht alles so rosig ist, wie es aus der Ferne schien. Dies hat sie dann am Beispiel des Zugangs und der Beurteilung des deutschen Gesundheitswesens durch Aussiedler untersucht. Viele Russen die deutsche Gesundheitsversorgung als schlechter beurteilten als die russische, so eines ihrer Ergebnisse. Die Aussiedler vermissten Netzwerke und die umfassende, teils paternalistische Rundumversorgung, die sie aus Russland kennen. In Deutschland sei alles viel „formalistischer“.

Polina Aronson bereitet derzeit ihre nächste Forschungsarbeit vor. Darin will sie untersuchen, welche persönlichen Brüche und Erfahrungen sich für Immigranten ergeben, wenn sie in einem fremden Land alt werden. Auch Aronson, die zwei kleine Kinder hat und in Berlin lebt, plant nicht, nach St. Petersburg zurückzukehren. Richard Rabensaat

Richard Rabensaat

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })