zum Hauptinhalt

Homepage: Ins Offene denken

Carla Cederbaum schaut mit „mathematischem Auge“ in die Weiten des Universums

Stand:

Das Jahr 2008 ist in Deutschland das „Jahr der Mathematik“. Die PNN stellen in dieser Serie Potsdamer Wissenschaftler vor, die sich in Forschung und Lehre mit Mathematik beschäftigen.

Heute: Carla Cederbaum, Doktorandin am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik, Albert-Einstein-Institut Potsdam

„Es hat nur eine Seite, auch wenn wir meinen, zwei zu sehen.“ Carla Cederbaum zeigt auf das Möbiusband, einen Streifen Papier, dessen beide Enden sie um 180 Grad verdreht ringförmig aneinandergeklebt hat. Zum Beweis, dass dieses nach seinem Entdecker August Ferdinand Möbius benannte Band tatsächlich nur eine Seite und eine Randkante hat, zeichnet die junge Mathematikerin mit einem Stift eine Mittellinie auf den Streifen und kommt, ohne abzusetzen, wieder an den Ausgangspunkt zurück. Noch verblüffender wird es, als sie entlang der Linie das Band aufschneidet, der Streifen aber nicht, wie erwartet, in zwei Teile zerfällt, sondern einen zweifach verdrillten Ring bildet.

Vielleicht fängt es ja genau dort an, mathematisch interessant zu werden, wo wir unsere Wahrnehmungen hinterfragen und die Grenzen unserer Vorstellungswelt gedanklich überschreiten?

Carla Cederbaum tut dies täglich mit einem Erkenntnisdrang, der ins Unendliche zielt. Am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik, dem Potsdamer Albert-Einstein-Institut, untersucht sie den Massebegriff in der Relativitätstheorie. Die Astrophysik erfordert es, alle erdverbundenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten neu zu durchdenken. „Der Newtonsche Massebegriff taugt hier auf der Erde, aber eben nicht in den Weiten des Universums“, erklärt die Mathematikerin, die nach ihrem Studium in Freiburg für ihre Forschungsarbeit das Einstein-Institut wählte, weil sie hier „wie an keinem anderen Ort eine so enge Verbindung zwischen Mathematik, theoretischer Physik und Experiment“ findet.

Nicht in Wahrscheinlichkeiten, sondern in Möglichkeiten zu denken, geistige Schranken zu überwinden und ins Offene hinein zu forschen – das ist es, was sie an ihrem Fach fasziniert. Die Doktorandin sagt dies mit einer Bestimmtheit, die keine Furcht erkennen lässt, sich im Ungewissen zu verlieren. „Natürlich, man muss eine hohe Frustrationstoleranz entwickeln, wenn man auch nach längerem Nachdenken kein Ergebnis hat. Aber manchmal kommt die Lösung ganz plötzlich über Nacht.“ Carla Cederbaum lacht, als sie erzählt, wie sie einmal aus dem Schlaf aufwachte, sich Notizen machte und am Morgen nichts mehr davon verstand. Zwei Tage hat sie darüber gegrübelt bis sie merkte, dass die in der Nacht aufgeschriebene Lösung stimmte. „Das ist schon verrückt.“ Seither liegen neben ihrem Bett stets Bleistift und Papier.

Mehr braucht sie für ihre Arbeit eigentlich nicht. Alles spielt sich im Kopf ab. Wo der Musiker sein Gehör und der Maler seinen Blick schärft, da trainiert sie ihre Vorstellungskraft. Das hat sie schon als Kind getan. Mit zwei Jahren sortierte sie die Kugeln, Würfel und Zylinder eines Steckspiels nicht, wie die meisten Kinder, nach der Farbe, sondern nach der geometrischen Form. Und beim Einkaufen interessierte sie als kleines Mädchen kaum etwas anderes so sehr wie die Funktionsweise der Kasse. Sie wollte die Zahlen verstehen. Noch vor dem Schuleintritt rechnete sie bis zur 100 – eine Begabung, die den Eltern nicht verborgen blieb.

Auch wenn die Mutter als Informatikerin und der Vater als Chemiker das Talent förderten, so konnten sie doch nicht verhindern, dass sich ihre Tochter während der Schulzeit in Heidelberg mitunter langweilte. Erst während eines Aufenthalts in England fühlte sie sich stärker gefordert, weil sie in einer Gruppe lernte, die sich ihr Wissen selbst erarbeiten musste. Zurück in Deutschland, übersprang sie die 11. Klasse und besuchte im Sommer eine Ferienfreizeit der Deutschen Schülerakademie. Dass es einen Bundeswettbewerb für Mathematik gibt, erfuhr sie erst im letzten Schuljahr. Auf Anhieb gewann sie einen Preis. Die damit verbundene Prämie bekam jedoch die Schule. „Die wollte davon Sportgeräte kaufen“, empört sich Carla Cederbaum noch heute. „Ich habe dann durchgesetzt, dass mit dem Geld eine Stellwand angeschafft wird, die über den Bundeswettbewerb und die Matheolympiade informiert.“

Das war ihre erste PR-Aktion für die Mathematik und möglicherweise der Beginn einer leidenschaftlichen Öffentlichkeitsarbeit für eine Wissenschaft, deren Schönheit oft im Verborgenen liegt. Noch an der Universität organisierte Carla Cederbaum mit Kommilitonen eine Vortragsreihe über die vielfältigen Beziehungen zwischen Mensch und Mathematik, zu der die Freiburger in Scharen strömten und deren Beiträge später in einem Sammelband veröffentlicht wurden. Zehn Jahre nach ihrer eigenen Teilnahme leitet die junge Wissenschaftlerin heute selbst einen Kurs in der Deutschen Schüler-Akademie. Und auf dem ersten brandenburgischen Schülercampus vor wenigen Wochen an der Potsdamer Universität lockte sie mit physikalischen Experimenten künftige Studenten an den Informationsstand ihres Instituts. Sie schreibt ein Kinderbuch über „Mathematische Zaubertricks“ und entwickelte gemeinsam mit anderen Doktoranden interaktive Modelle für das Wissenschafts-Schiff, das im Jahr der Mathematik flussauf und -abwärts durch die Lande fährt, um das Eis zu brechen, das die meisten Menschen zwischen sich und die Mathematik geschoben haben.

Wer Carla Cederbaum über Formeln reden hört, sie gestikulierend gekrümmte Räume beschreiben sieht, der ahnt, was sie meint, wenn sie von der Mathematik als einer unabhängig von uns existierenden Landschaft spricht, die wir betreten und erkunden und deren Gesetze wir entdecken können. „Manchmal“, sagt sie, „ist es eine sehr einsame Reise, denn man geht an einen Ort, an den einem selten jemand folgen kann. Andererseits ist kaum etwas anderes so kreativ.“

Dass sie die erforschten Theorien nicht in eigener Anschauung überprüfen kann, stört sie wenig. Natürlich würde sie gern in die Weiten des Universums reisen, aber was sie dort sehen und wahrnehmen würde, könnte sie vermutlich nicht richtig interpretieren, weil ihre Sinne das nicht gelernt haben. „Da verlasse ich mich lieber auf theoretisches Wissen, Intuition und das mathematische Auge“, sagt Carla Cederbaum, „um genau zu verstehen, was die Natur der Dinge ist.“

Auf höherem Niveau scheint es wie mit dem Möbiusband zu sein. Manchmal hat ein Ding eben nur eine Seite, auch wenn wir meinen, wir sähen zwei.

Antje Horn-Conrad

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })