Landeshauptstadt: Italien in der Mausefalle
Revolutionärer Entwurf von Lèon Krier für Neubauviertel an der Jägerallee fiel bei der Jury durch
Stand:
Bei einem Espresso Duplo im Babelsberger Lindencafé blättert Stefan Brehme in einer kleinen Broschüre. „Eine schöne Idee ist das mit den Luftschlössern“, sagt er. „Da kommt manches Vergessene wieder zu Tage.“ Der Schein der Mittagssonne, der durch die großen Fenster ins Café dringt, verleiht dem Raum eine ungewöhnliche Lebendigkeit. „Draußen die S-Bahn, die Straßenbahn – fast wie in einer Großstadt“, sagt Brehme und genießt den Kaffee.
„Da hat doch mal einer ein kleines italienisches Dorf für die Mausefalle geplant“, erinnert er sich und empfiehlt das Projekt für die PNN-Luftschloss-Serie.
Mausefalle? In keinem Stadtplan ist der Begriff, der sich sogar in den Entwürfen der Architekten findet, verzeichnet. Seit jeher nennt der Volksmund die Wohnlage hinter dem Hotel am Jägertor so. Nahe der Hegelallee findet sich in der Jägerallee ein Straßenschild „Jägerallee 37-40“, das in Richtung „Mausefalle“ zeigt. Eine betonierte Straße führt hinein. „Privatgrundstück“, heißt es auf einem Schild und auf leuchtend rotem Grund wird gewarnt: „Unbefugten Personen Betreten verboten!“ Postmoderne Stadtvillen mit großen bläulichen Glasfronten im Parterre, Ein- und Ausfahrt für eine Tiefgarage, kleine Spielplätze „nicht öffentlich“. Dahinter und vom Neubauviertel abgetrennt über hundertjährige imposante vierstöckige Mietshäuser mit restaurierten neobarocken Fassaden.
Es ist nicht überliefert, aber vielleicht stand Lèon Krier, einer der bekanntesten europäischen Architekten, im Jahre 1992 in der Mittagssonne auf dem großen Platz am Jägertor und spürte das italienische Flair des Ortes oder zumindest das von Ludwig Persius, dem „Baumeister des Königs“, der unweit von hier sein Wohnhaus hatte und die italienischen Villen nach Potsdam brachte. Die „Mausefalle“ bestand Anfang der neunziger Jahre teilweise aus einer unbebauten Fläche, wildes Grün überwucherte zerfallende Lauben ehemals privat genutzter Gärten. Eine grüne Idylle und Ruhezone, nur wenige Schritte von der lärmenden Jägerallee entfernt.
Krier nahm einen Zeichenstift und skizzierte kleine Gassen und Plätze. Auf den später kolorierten Ansichten ducken sich italienisch wirkende Villen und kleine Palazzi hinter Mauern unter zypressenhaften Bäumen. „Lèon Krier entwarf die poetischste Interpretation des Ortes, eine sehr künstlerische Vision zum Thema Hof“, urteilte die Jury später. Doch zur Umsetzung empfahl sie den Entwurf des luxemburgischen Architekten nicht.
Das Potsdamer Amt für Stadtentwicklung, damals geleitet von Richard Röhrbein, rief einen Ideenwettbewerb ins Leben. Außer Lèon Krier wurden dazu die Berliner Büros Arno Bonanni, Henry Nielebock, Patschke und Partner und MP Burgmayer eingeladen. Innerhalb nur eines Monats hatten die Architekten im Auftrag der damaligen „Allgemeinen Wohnungsbaugesellschaft mbH & Co Jägerallee“ ihre Entwürfe zu liefern. Gehobene Stadtvillen sollten entstehen. Und auch die Frage „Wie privat und wie öffentlich sollen die Höfe sein?“ sollten sie entscheiden.
Der Entwurf von Krier mit seiner kleinteiligen Bebauung mit einem Netz von Gassen und Wegen wirkt wie ein Rückgriff auf das ländliche Potsdam wie es heute nur noch an wenigen Stellen der Stadt, etwa an der auslaufenden Lennéstraße, zu ahnen ist. Die neuen Bauten sind in Kriers Planung harmonisch mit den Bestandsbauten verbunden. Mauern, wie im Stadtbild Italiens vielerorts üblich, begrenzen den öffentlichen Raum. Abgrenzung und Öffnung gleichermaßen ist das Prinzip: ein hohes Maß an Privatheit verbunden mit der Möglichkeit, die Räume öffentlich zu erleben. Eine Durchquerung ist, anders als heute, in jede Himmelsrichtung möglich, alle Wege führen zu einem Platz in der Mitte mit einer Trauerweide im Blickpunkt.
Die Häuser sind so verschieden wie ihre Grundrisse. Ihre lockere Anordnung erlaubt verschiedene Wohnungstypen und eine abwechslungsreiche Fassadengestaltung. Über Treppen sind die Erd- und Obergeschosswohnungen separat erreichbar. Die massiven Häuser sind weiß verputzt. Ein dreigeschossiges Bürogebäude mit niedrigen Seitenflügeln war am „Amadeus-Weg“ vorgesehen. Weitere Straßennamen erfindet der Architekt: Lorenzostraße und Don-Basilio-Weg. Die zweigeschossigen Wohnbauten erlauben Durchblicke zur Nachbarbebauung. Zahlreiche Gärten bewahren den Charakter einer durchgrünten Vorstadt.
„Transparenter Raum“ lautet die Bezeichnung für das Konzept von Henry Nielebock, das letztlich verwirklicht wurde: Zwei lang gestreckte Büro-Baukörper stehen den Gründerzeitbauten gegenüber. In Richtung Jägerallee befinden sich drei würfelförmige Stadtvillen. Weitere drei Neubaublöcke wurden im Norden des Grundstücks errichtet. Unter dem Bürokomplex befindet sich die Tiefgarage. Insgesamt entstanden 76 Wohnungen und 1500 Quadratmeter Bürofläche. Die Wohnungen der Stadtvillen, nach Meinung des Architekten eine „moderne Interpretation der Villen von Ludwig Persius“ sind komfortabel: zweigeschossige Wintergärten, transparente grüne Zimmer in den Ecken jedes Gebäudes, großzügig vorgelagerte Terrassen in den Dachgeschossen.
Der heute in der Mausefalle verwirklichte Entwurf ist gewissermaßen ein Kontrapunkt zu der Vision von Lèon Krier. Der Architekt, Jahrgang 1946, ist der Bruder des in Potsdam durch das Kirchsteigfeld bekannten Stadtplaners Rob Krier. Nicht nur biologisch, sondern auch seelisch scheinen die beiden Architekten miteinander verwandt zu sein: Rob Krier versuchte im Kirchsteigfeld, an dem 22 Architekturbüros beteiligt waren, durch Farbe, Stadtgestalt und Kubatur der Einzelbauten eine kleine Stadt mit italienischer Leichtigkeit nach Potsdam zu transportieren. Bruder Lèon gehörte nicht zum Kirchsteigfeld-Architektenteam, wohl aber Henry Nielebock.
„Es ist schon schade, dass aus dem italienischen Dorf in der Mausefalle nichts geworden ist“, meint Stefan Brehme und blättert weiter in der kleinen Broschüre, die damals über das Bauvorhaben erschien. „Der Entwurf wirkt im positiven Sinne verspielt und strahlt eine gewisse Lebensfreude aus. Was gebaut wurde, ist nicht halb so überraschend und sicher kein Grund, sich heute als Tourist auf dem Weg von Don Basilio hinter der Mausefalle zu verirren“, meint er.
Wer einen bisher nicht verwirklichten Architektur-Entwurf für die PNN-Serie „Luftschlösser“ vorschlagen möchte, meldet sich unter Tel.: (0331) 2376 134, Fax: (0331) 23 76 300 oder per E-mail an lokales.pnn@pnn.de.
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