
© Thilo Rückeis
Homepage: Jenseits des Wortsinns verstehen Wissenschaftliche Tagung zu jüdischer Musik
Wenn Klezmer und Roma-Musik einander begegnen, kann schon mal Punk herauskommen. Oder Folklore.
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Wenn Klezmer und Roma-Musik einander begegnen, kann schon mal Punk herauskommen. Oder Folklore. In beiden Fällen werden musikalische Traditionen transformiert in die Gegenwart, indem sie anverwandelt und einverleibt werden. Die einen nennen es Bastardpop, die anderen Weltmusik. Oder „The Other Europeans“, die anderen Europäer. Die anderen in Europa. Die, die zwischen allen Stühlen sitzen und in dieser oft recht unbequemen Lage eine eigene Kultur kreieren.
So nennt der Musiker Alan Bern sein neuestes Projekt. Er gehört zu denen, die aus Traditionen Neues schaffen. Mit Bands wie Brave Old World reanimierte er den Klezmer zu neuem Leben und zu einer ungeahnten Popularität auch in der nichtjüdischen Welt. Als Pädagoge gibt Bern sein Wissen in Workshops weiter, seit zehn Jahren federführend im Rahmen des Yiddish Summers in Weimar. Am Sonntagabend war der Weimarer Sommer zu Gast in Potsdam und musizierte, bis der Fußball angepfiffen wurde.
Nur wenige Stunden später stand Alan Bern wieder hinter einem Pult, diesmal als Musikwissenschaftler, um die Tagung zu den 3. Potsdamer Tagen Jüdischer Musik zu eröffnen. Und um sein Projekt vorzustellen. Die Erforschung der Unterschiede und der Gemeinsamkeiten von Roma- und Klezmermusik, die für den Laien wie eineiige Zwillinge klingen. Und doch ganz anders in den Nuancen tönen.
Im Ursprung war Klezmer Hochzeitsmusik. Im späten 19. Jahrhundert klang sie in Polen, wo die aschkenasische Musiktradition gepflegt wurde, ganz besonders melancholisch und eher todessehnsüchtig. Als wenn Heiraten ein Grund zur Trauer wäre. War es wohl auch, wie Zev Feldmann in seinem Referat anmerkte. Die Scheidungsrate in jüdischen Familien schnellte in jener Zeit in die Höhe. Besonders für die jungen Frauen verhieß die Ehe nicht zwingend Glück. Statt ihre Schönheit zu feiern, wurden ihnen während der Zeremonie die Haare abgeschnitten, um ihre religiöse Reinheit zu betonen. Ohne Frage wunderschön aber ist die Musik, die für diese Anlässe geschrieben wurde.
Wer Traditionen im Judentum verstehen will, wird immer wieder bei der Musik ankommen. Weil Musik ein Verstehen jenseits des Wortsinns ermöglicht. In der Synagoge wird beim Gottesdienst nicht gepredigt, sondern im Jahreszyklus die Thora rezitiert. In den hebräischen Bibeln zeigen Punktierungen nicht nur die Aussprache, sondern auch die Melodiefolgen an, in denen der Text gesprochen werden soll. Judit Frigyesi mag diesen „Flow of Words“ nicht als Musik bezeichnen, aber als ein Kennzeichen für einen spezifischen Umgang mit Sprache. Ein orthodoxer Jude in Schwierigkeiten würde die Psalmen aufschlagen und sie laut lesen, vom ersten Psalm bis zum letzten. Immer wieder. Als eine Form von Meditation, ein immerwährender Versuch, die wahre Bedeutung des Textes, den Sinn hinter den Worten, die wie ein Vorhang zwischen Lesen und Erkenntnis stehen, zu erfassen.
Musik als Gebet, am ohrenfälligsten ist diese Funktion in den liturgischen Gesängen in der Synagoge wahrnehmbar. Einzelnen Protagonisten und Entwicklungen der religiösen jüdischen Musik widmete sich die Mehrheit der Vorträge der Konferenz, ein weiterer Schwerpunkt waren Konzepte der pädagogischen Vermittlung. Wie wertvoll Archive als notwendige Quelle der Forschung sind, zeigte der Vortrag von Janina Wurbs, die das Ben Stonehill-Archiv im YIVO Institute for Jewish Research in New York digitalisierte.
Stonehill, der als Steinberg in Polen 1906 geboren wurde, sprach fließend jiddisch und war ein leidenschaftlicher Sammler von Folklore. In dem Bewusstsein, dass die Shoa die jiddische Liedkultur vollständig zu vernichten drohte, suchte er 1948 Emigranten aus Europa im Hotel Marseille in Manhattan auf und bat sie, alte Lieder zu singen, die er aufnahm. Die so überlieferten Lieder spiegeln, in allen nur erdenklichen Sprachen wider, was in den 30er Jahren gesungen wurde. Lene Zade
Lene Zade
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