zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Julia S. plädiert auf Freispruch

Am Montag beginnt Prozess um Überfall auf mutmaßlich rechtsextremen Jugendlichen am Café Heider

Stand:

Sie saß fünf Monate wegen des Verdachts auf versuchten Mord an einem mutmaßlich rechtsextremen Jugendlichen in Untersuchungshaft. Doch ab kommendem Montag wird gegen die 21-jährige Potsdamerin Julia S. und vier Mitbeschuldigte vor dem Landgericht Potsdam nur noch wegen gefährlicher Körperverletzung verhandelt.

In den zwölf angesetzten Verhandlungstagen soll geklärt werden, was genau in der Nacht vom 18. zum 19. Juni vergangenen Jahres in der Potsdamer Innenstadt passierte. Laut Staatsanwaltschaft sollen die Angeklagten gegen 1.15 Uhr vor dem Nauener Tor beim Café Heider mit einem Teleskopschlagstock auf den damals 16-jährigen Benjamin Oe. eingeschlagen und „ihn dadurch erheblich verletzt“ haben. Der aus Neu Fahrland stammende Jugendliche gilt als stadtbekannter Neonazi: Der „Hass“ auf Rechtsextremisten sei laut Staatsanwaltschaft das Motiv der Angreifer gewesen. Benjamin Oe. erhielt bei dem Angriff Prellungen und eine etwa vier Zentimeter lange Platzwunde am Kopf, die ambulant behandelt werden musste. Allerdings soll er laut Potsdams linker Szene schon einen knappen Tag später beim Stadtwerkefest zusammen mit anderen Rechten mehrere Personen angepöbelt und bedroht haben. Erstmals auffällig in Erscheinung getreten sein soll Oe. bei den Chamäleon-Prozessen im vergangenen Juni am Amtsgericht in der Hegelallee: Bei der Verhandlung wegen eines Brandanschlags von drei Neonazis gegen das Haus des Jugend- und Kulturvereins Chamäleon e.V. versuchten Dutzende Rechte aus Berlin und Potsdam vor und im Gericht Verhandlungsteilnehmer einzuschüchtern. Eine der Zeugen damals war auch Julia S., die Vorsitzende des Chamäleon-Vereins – die sich nun selbst verantworten muss.

Kurz nach der Gewalttat an Benjamin Oe. wurden die Verdächtigen um Julia S. festgenommen und wenig später unter Mordverdacht gestellt. Julia S., die einzige Volljährige unter den Beschuldigten, kam in Haft. Die Staatsanwaltschaft argumentierte mit einem „nicht gefestigten sozialen Umfeld“ der Beklagten. Es bestehe Fluchtgefahr. Diese Einschätzung löste eine heftige Debatte aus, selbst der Rechtsausschuss des Brandenburger Landtags befasste sich mit dem Thema. Nach fünf Monaten wurde jedoch ein juristisches Gutachten vom Potsdamer Landgericht anerkannt, demnach ein Schlag mit einem Teleskopstab in der Regel keinen Menschen töten könne. Daraufhin wurde Julia S. wieder freigelassen – zu allen Vorwürfen gegen sie hat sie bisher geschwiegen. Im jetzigen Verfahren drohen ihr mindestens sechs Monate Haft. Im Fall einer Verurteilung müsste sie mindestens noch einen Monat absitzen. Dass es so kommt, daran glauben sie und ihr Anwalt Steffen Sauer nicht: Sie wollen auf Freispruch plädieren. „Ich bin eher zuversichtlich“, so Julia S. gegenüber den PNN. „Angst“ habe sie nur aus dem Grund, „wie mit dem Fall bisher umgegangen worden ist“ – und meint ihre Zeit in der Untersuchungshaft.

Diese heftig umstrittene Zeit im Gefängnis ist einer der Gründe, warum der Prozess gegen Julia S. eine zusätzliche Bedeutung gewonnen hat: Gegen Rechtsextremismus engagierte Initiativen sehen den Fall als staatlichen Versuch, „Antifaschismus zu kriminalisieren und zu diffamieren“, wie etwa die eigens für die Unterstützung von Julia S. gegründete Soligruppe Potsdam in einem jüngst erschienen Aufruf kritisiert. Wie andere linke Organisationen ruft die Soligruppe ihre Sympathisanten dazu auf, zahlreich im Potsdamer Landgericht zu erscheinen. „Es wird mit massiver Präsenz von Neonazis aus Potsdam, Berlin und Umgebung gerechnet, da stadtbekannte Neonazis auf der Zeugenbank sitzen werden“, heißt es. Zudem wird im Gericht ein bundesweit agierender Szene-Anwalt von Rechtsextremisten erwartet, der inzwischen auch in Potsdam bekannt ist: Wolfram Nahrath, letzter Vorsitzender der 1994 verbotenen Wiking-Jugend, der damals bedeutendsten Jugendorganisation deutscher Neonazis. Nahrath tritt im Prozess gegen Julia S. als Anwalt der Nebenklage für Benjamin Oe. auf. Er war unter anderem Verteidiger im Gubener „Hetzjagd“-Prozess um elf junge Männer, die einen Algerier in einem Plattenbaugebiet zu Tode gehetzt hatten. In Potsdam vertrat er den Rechtsextremisten Michael G. im „Chamäleon“-Prozess und in der Verhandlung um den „Tram-Überfall“ auf zwei Jugendliche in der Friedrich-Ebert-Straße im Juli vergangenen Jahres.

Ob wie bei diesen beiden Prozessen erneut dutzende Rechte versuchen, Teilnehmer vor Gericht einzuschüchtern, scheint völlig offen: Im Internet finden sich auf einschlägigen Seiten der Brandenburger Neonazi-Szene im Gegensatz zu damals keine Mobilisierungsaufrufe. Trotzdem sei die Polizei vorbereitet, wie Polizeisprecherin Angelika Christen gegenüber den PNN versichert: „Wir können nicht ausschließen, dass es am Rande der Verhandlungen zu Auseinandersetzungen unter den Besuchern kommt.“ Im Vorfeld seien mit dem Landgericht schon Gespräche über die Sicherheitslage geführt worden. Neben Beamten des Schutzbereichs Potsdam würden zusätzliche Polizisten der Bereitschaftspolizei den Prozess sichern. „Die Einsatzkräfte werden vor dem Landgericht präsent sein“, so Christen. Innerhalb des Gerichts sei jedoch zunächst die Justiz zuständig – doch sollte eine Schlägerei beginnen, könnten sich die Polizisten sofort ins Gerichtsgebäude begeben und dort einschreiten. Henri Kramer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })