Von Henri Kramer: Jung und obdachlos
Immer mehr jugendliche Potsdamer wohnen im Obdachlosenheim. Ihre Zahl hat sich innerhalb eines Jahres auf 14 verdoppelt. „Wir platzen aus allen Nähten“, sagt die Leiterin
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Eigentlich ist es das übliche Weihnachtsvesper des Obdachlosenheims: In der Caféteria des Hauses spielt eine Band, viele ältere Männer sitzen um Tische herum und essen Kuchen. Doch sind am gestrigen Montag auch auffällig viele Gesichter ohne Falten zu sehen. „Die Zahl der jungen Erwachsenen hat sich innerhalb eines Jahres auf 14 verdoppelt“, sagt Heimleiterin Christa Zinnecker.
Einer von ihnen ist Mark. Seine Mutter sei Alkoholikerin, sein Vater tot, die Geschwister sonstwo. Er suche seit Jahren erfolglos nach Arbeit oder einer Ausbildung. „Ich hatte irgendwann drei Monate Mietrückstand“, erzählt der 24-Jährige. Die Potsdamer Hartz-IV-Behörde Paga habe ihm nicht geholfen. Nun ist er hier. „Ich mache gerade einen Ein-Euro-Job um die Schulden abzuzahlen.“
Dass dieses Jahr deutlich mehr junge Potsdamer in so eine Situation wie Pascal gekommen sind, versucht Heim-Chefin Zinnecker zu erklären. Manchen fehle das Geld, sich eine Wohnung zu leisten, manche kämen schlicht mit dem Alltag nicht zurecht. „Es gibt aber auch Fälle, dass Jugendliche einfach von zu Hause rausfliegen.“
Pascal ist es so ergangen. Zu seinem 18. Geburtstag sagten ihm seine Eltern, dass er sich eine neue Bleibe suchen soll. Die Wohnung war für beide Seiten zu eng geworden. „Wir verstehen uns zwar wieder ganz gut, aber zusammenleben ginge nicht“ sagt der heute 19-Jährige. Doch mit dem Auszug kamen die Probleme, ohne Ausbildung reichte das Geld irgendwann nicht mehr. „Als es kalt geworden ist, bin ich hierher gekommen.“ Jedes Jahr wohnen in ganz Deutschland nach Expertenschätzungen 20 000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zumindest zeitweise auf der Straße.
Um jungen Menschen wie Pascal oder Mark zu helfen, hat Heimleiterin Christa Zinnecker seit November vergangenen Jahres ein Konzept für gemeinsames Wohnen entwickelt. Die Jugendlichen sollen dabei trotz ihrer schwierigen Lebenslagen zwischen Alkoholgefährdung, Hyperaggressivität und Leistungsschwäche unterstützt werden, die Regeln seien bewusst locker. „Solche jungen Menschen brauchen auch mal 20 Chancen und nicht nur drei“, sagt Zinnecker. Fünf Obdachlose im Alter von unter 27 Jahren hätten so dieses Jahr das Heim wieder verlassen können.
Dass jemand der Wohnungslosigkeit entflieht, ist nicht selbstverständlich. Manche der Bewohner des Heims am Lerchensteig leben dort schon seit Jahren. Und es werden mehr. Seit Januar fanden 49 eine Wohnung, 59 kamen. 94 von hundert Plätzen sind besetzt, nur noch sechs der zwölf Notplätze zu vergeben. „Wir platzen aus allen Nähten“, sagt Heimleiterin Zinnecker.
Noch vor Weihnachten wird es einer weniger sein. Denn Enrico Krüger ist eher zufällig hier. Er arbeitet eigentlich in der Dominikanischen Republik, verleiht unter anderem Boote. Doch dann musste er noch einmal nach Deutschland, fand in Potsdam aber keine geeignete Wohnung. So wohnt der 30 Jahre alte Mann nun seit dem Frühsommer am Lerchensteig.Vor Weihnachten will er mit dem Flieger zurück auf die Insel, lächelnd zeigt er seinen Ausweis von dort. Deswegen könne er auch offener sprechen als manch andere in dem Haus, sagt Krüger. Und: „90 Prozent der Leute hier wollen gar nicht mehr raus.“ Denn viele würden auch gar nichts anderes mehr kennen, hätten eben hier ihre Freunde. So scheitern die Absprünge ins normale Leben. „Manche sind schon zum vierten Mal hier, die kommen draußen nicht klar.“ Einige Bewohner haben sichtlich vom Alkohol aufgequollene Gesichter oder bewegen sich unsicher. Fast jeder raucht. Die Scherze sind herzlich, oft aber auch derbe.
Kein idealer Platz für junge Menschen. Sie haben oft Langeweile. „Man wartet, ob die Decke runterfällt“, sagt Mark ironisch. Sein nächstes Weihnachten wolle er wieder in einem eigenen Heim verbringen. Pascal möchte das ebenso. Aber solange nichts anderes da ist, geht es erst einmal.
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