Landeshauptstadt: Justitia turnt
Als Ausgleich zum bewegungsarmen Bürojob treiben Richterinnen und Justizangestellte zwei Mal die Woche Betriebssport. Im Sitzungssaal.
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Die Justizangestellten stöhnen leise. Der Sitzungssaal Nummer 2, Aufgang H, im Landesarbeitsgericht wird von schweren Stahlstreben getragen. Die durch die großzügigen Fensterflächen hereinscheinende Sonne hat den quadratischen Raum auf Backofentemperatur erwärmt. Meditative Musik flirrt aus dem tragbaren CD-Player, der vorne auf dem Verhandlungstisch steht. Die rot bezogenen Zuschauerstühle sind gestapelt, die Parteientische bei Seite geschoben. Auf dünnen Matten liegen Richterinnen und Justizmitarbeiterinnen. Sie heben Beine und Kopf und spannen die Bauchmuskulatur an. Feine Schweißperlen halten sich auf den angestrengten Gesichtern.
Zwei Mal die Woche „Pilates“ als Ausgleich zum bewegungsarmen Bürojob haben sich die Frauen auferlegt – auch an heißen Sommerabenden. Das Trainingsprogramm sei nach seinem deutschen Begründer Joseph Pilates benannt, erklärt Astrid Merz. Die staatlich geprüfte Sportlehrerin hilft den Justitia-Dienenden, ihr Körperzentrum zu kräftigen. Das so genannte Powerhouse liege gleich über dem Bauchnabel. Ziehe man diesen hoch, erhalte man die erwünschte Balance, jenes Gleichgewicht, das einseitiger Körperbelastung entgegenwirke.
Eines der Glasfenster steht offen. Dreißig Grad warme Sommerluft spielt auf den heruntergelassenen Metalllamellen Harfe. Aus der Ferne hört man einen „Einpeitscher“. „Und eins, und zwei, und drei und hoch die Beine“. Im Fitnessstudio gegenüber wird Muskelkraftprotzerei verlangt. Basslastige Rhythmen bestimmen den Affenzahn, mit dem die Körper in Bewegung zu halten sind. Zu schnell für ein gesundes Training.
Joseph Pilates hingegen, der bereits in den 30er Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika das erste Trainingsstudio eröffnete, hatte sein Programm aus Yoga und Bewegungsabläufen fernöstlicher Kampfsportarten zusammengestellt. Die Übungen werden bewusst, konzentriert und langsam ausgeführt, erklärt die lizensierte Pilates-Trainerin.
Die Füße stehen fest auf dem Boden, die Körper darüber wiegen „wie Grashalme im Wind“, beschreibt Astrid Merz die nächste Übung . Die nackten Fußsohlen kleben am Schaumstoff der Turnunterlage. Nun geht die Gruppe in die Hocke, aber nur so tief, dass die Oberschenkel parallel zum Boden sind. Das zieht ganz schön in den Muskeln. Mit Konzentration auf die beruhigende, musikalische Untermalung soll sich der stechende Schmerz wegdenken lassen. Vorne neben dem Richterpult steht der Laptop der Protokollantin, Locher und Tacker liegen am Tischrand sowie die aktuelle dtv-Taschenbuch-Ausgabe „Arbeitsgesetz“. Die Oberschenkel schmerzen immer noch, und dass, obwohl der Bauchnabel schon merklich höher gerutscht ist. Die Geübten sind sehr konzentriert und geben eine wackelfreie Figur ab.
Vor zwei Jahren haben die Frauen mit dem Turnen nach dem Dienst angefangen. „Damals noch in einer Wellness-Etage in der Berliner Straße“, erinnert sich Monika Weisberg–Schwarz, Vizepräsidenten des Landesarbeitsgerichts. Als diese aufgelöst wurde, sei man zunächst erfolglos auf Raumsuche gegangen, bis der Richterin die Idee mit dem Sitzungssaal kam. Abends seien die Räume ohnehin ungenutzt und es gebe noch mehr Beschäftigten einen Anreiz zur gesunden Bewegung. Das kleine Beratungszimmer, wohin sich Richter und Beisitzer während der Verhandlungen zurückziehen können, dient als Umkleide. Ihre Trainerin Astrid Merz hätten sie damals mitgenommen, erzählt die Pilates-Anhängerin.
Nach einer Stunde hochgezogenem Nabel und einem Liter Mineralwasser je Turnerin wird geklatscht. Vor Begeisterung für das gute Übungsprogramm, aber auch für die Erlösung. Das Lachen fällt nach den ersten 60 Minuten Pilates schwer. Im Powerhouse herrscht Katerstimmung. Der Weg zur Erkenntnis ist ein langer. Das weiß auch der Begründer des Übungsparcours. Sein Leitsatz setzt auf Durchhaltevermögen: „Nach zehn Stunden spürt man den Unterschied, nach zwanzig sieht man den Unterschied und nach dreißig hat man einen neuen Körper.“
Nicola Klusemann
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