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Landeshauptstadt: Kaugummis statt Weltpolitik

Die jungen Leute der Stadt hatten vor 60 Jahren viele Sorgen – die Potsdamer Konferenz interessierte sie kaum

Die jungen Leute der Stadt hatten vor 60 Jahren viele Sorgen – die Potsdamer Konferenz interessierte sie kaum Von Henri Kramer 16 Grad, Wolken, Flugzeuge kreisen am morgendlichen Himmel: Es ist in einem sonst so freundlichen Sommer ein seltsam trüber Tag, an dem die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz im Schloss Cecilienhof bekannt gegeben werden. Der damals 11-jährige Potsdamer Klaus Arlt – heute ist er Historiker – hat um dem 2. August herum ganz anderes im Sinn: „Während der Konferenz gab es in Steinstücken einen regen Schwarzmarkt – dort konnten wir Knaben von den Amerikanern Kaugummis abstauben.“ Arlt lächelt noch 60 Jahre später verschmitzt darüber, wenn er an diese Erlebnisse denkt, wie er zum Beispiel im Rinnstein gefundene Nazi-Abzeichen gegen die begehrten Süßigkeiten eintauschte. „Der Kaugummi war für uns zu dieser Zeit eine echte Errungenschaft der Zivilisation.“ Die große Politik ist am 2. August 1945 erschöpft – seit dem 17. Juli laufen die Verhandlungen der „Großen Drei“. In der Nacht gehen die Delegationen erst gegen 0.30 Uhr auseinander, nachdem die Potsdamer Deklaration unterzeichnet worden ist. US-Präsident Truman verabschiedet sich mit ein paar wenigen Worten: „Bis zu unserem nächsten Treffen, das, wie ich hoffe, in Washington stattfinden wird.“ In der Überlieferung antwortet sein sowjetischer Widerpart Stalin lächelnd: „Wenn Gott will.“ Er empfindet Ergebnisse wie die Westverschiebung Polens als Erfolg seiner Politik. Großbritanniens Premier Clement Attlee wird in den historischen Quellen über die letzten Tage und Stunden der Konferenz kaum erwähnt – erst am 28. Juli ist der frisch gebackene britische Wahlsieger als Nachfolger von Winston Churchill nach Potsdam gekommen: „Attlees Rolle reicht kaum über die bloße Anwesenheit hinaus“, urteilt heute Manfred Görtemaker, Leiter des Zentrums für zeithistorische Forschung. Die meisten Kinder Potsdams ahnen nichts von den brisanten Konstellationen am Neuen Garten. Klaus Arlt erinnert sich jedoch noch, dass er Truman im offenen Wagen vorbeiziehen sah. „Er fuhr auf der Stahnsdorfer Straße in Richtung der heutigen Medienstadt – er blieb der einzige hohe Politiker, den ich in der Zeit gesehen habe.“ Interessanter ist für Arlt ein Fleck, der in der Nähe von Steinstücken liegt. „Dort hatten die Russen einen Müllplatz angelegt, wo sie alles hinfuhren, was ihnen nach der Räumung der Babelsberger Villen als überflüssig erschien.“ Er erinnert sich, wie er in dem Haufen nach Büchern und Spielzeug suchte. „Viele Leute dort brauchten einfach nur Holz zum Kochen und schnitten dafür Bilder aus ihren Rahmen.“ Während der Potsdamer Konferenz, so Klaus Arlt, nutzten dann auch die Amerikaner den Platz bei Steinstücken: für ihre Kantinenreste. „Sie machten Fotos von den Deutschen, die dort nach Nahrung suchten – das waren typische Bilder von Sieger und Besiegten.“ Auch in den Tagebucheintragungen der damals 12-jährigen Hannelore Lehmann geht es um Alltäglichkeiten in einem besiegten Land, über dessen Schicksal in Potsdam verhandelt wird. Am 1. August 1945 schreibt sie von einem freudigen Erlebnis: „Gestern bekamen wir die erste Butter nach zwölf Wochen. Es löste einen allgemeinen Jubel aus.“ Noch heute dominieren solche Erlebnisse ihre Erinnerungen: das Leben in einer halb zerbombten Wohnung in der Stiftstraße, zusammen mit der Mutter und den zwei jüngeren Geschwistern. „Wir Kinder haben versucht, das Glück der Zeit zu sehen und sind zum Beispiel oft in der Havel schwimmen gewesen“, sagt Hannelore Lehmann. Mit der Potsdamer Konferenz verbindet sie nur, dass sie seit dieser Zeit nicht mehr an einem ihrer Lieblingsplätze spielen konnte: „Vorher war ich ganz oft im Neuen Garten. Er durfte wegen der Konferenz dann nicht mehr betreten werden – dabei gab es dort so hübsche Veilchen an der Mauer und einen wunderschönen Buddelplatz.“ Bis 1952 kann Hannelore Lehmann nicht mehr zu diesem besonderen Ort ihrer Kindheit zurück – vorher nutzen die Sowjets den Neuen Garten als „Park der Erholung und Kultur“ für ihre Soldaten. Trotz ihrer Distanz spüren die Potsdamer das Ende der Konferenz: Nachdem die Politiker am 2. und 3. August die Stadt verlassen haben, werden viele Sicherheitsbestimmungen gelockert, einige der gesperrten Gebiete sind wieder zugänglich. „Die Posten, die zuvor das Gebiet des Neuen Gartens umstellt gehalten hatten, liefen am 3. August mit Zigaretten im Mund und schiefen Mützen herum, eine Nachlässigkeit, die ihnen in Gegenwart Stalins niemals erlaubt worden wäre“, schreibt Jürgen Angelow, Professor am Lehrstuhl für Militärgeschichte in der Universität Potsdam. Die genauen Ergebnisse der Konferenz erfahren die Menschen ebenfalls mit einem Tag Verspätung. Die „Tägliche Rundschau“, der Zeitung der sowjetischen Besatzer für Berlin und Brandenburg, vermeldet am 3. August den Abschluss des Treffens, in den nächsten Tagen folgt die ausführliche Wiedergabe der Beschlüsse mit Kommentierung: „Deutschland hat nun die Niederlage erlitten und muss eine strenge, aber gerechte Strafe ertragen“, heißt es in der Ausgabe vom 5. August. Hans-Werner Mihan, damals gerade 18 Jahren, weiß von den Beschlüssen zu diesem Zeitpunkt noch nichts genaues. Der heutige Historiker sitzt während der Konferenz in einem Gefangenenlager bei Fürstenwalde – als einer von rund 400 ehemaligen Soldaten, die rund drei Wochen vor der Konferenz am 25. und 26. Juni unter dem Vorwand der Registrierung für einen Arbeitseinsatz in den Potsdamer Magistrat bestellt und dort von den Sowjets mit vorgehaltenem Maschinengewehr in die Gefangenschaft geführt werden. „In dem Lager hatten wir nichts zu tun, wir gammelten eben herum.“ So gärte die Gerüchteküche, denn dass es eine Konferenz der Siegermächte gab, hatte sich schnell herumgesprochen. „Es gab da ganz wilde Spekulationen – danach sollte Potsdam zum Beispiel in einem freien Korridor zwischen den Westzonen und Berlin liegen“, erinnert sich Mihan. „Wunschdenken“, nennt er solche Gerüchte heute, vermutet, dass sie besonders von den sowjetischen Wachposten gestreut wurden, um die Männer „ruhig zu halten“. Bis er über die genauen Ergebnisse der Konferenz erfährt, dauert es für Mihan noch mehr als ein Jahr. Nach einem Marsch ins nächste Lager in Frankfurt an der Oder kommt der Abtransport ins weißrussische Brest-Litowsk. Dort baut er Umschlaghallen für die deutschen Reparationszahlungen auf. „Ende 1946 kam ich schwerkrank zurück – da wurde die Konferenz kaum noch erwähnt.“ In den Tagebüchern von Hannelore Lehmann steht auch am 5. August kein Wort darüber, dass sich ihre Mutter Gedanken über die Beschlüsse der „Großen Drei“ machte: „Mutti geht jetzt zum schwarzen Markt. Hoffentlich passiert ihr nichts, denn es ist verboten, mit den Russen zu tauschen. Aber sonst müssen wir Pellkartoffeln mit Salz essen.“ Klaus Arlt stellt fest, dass wohl die meisten Deutschen sich als Besiegte fühlten, deren Land nun aufgeteilt werden müsse. Politisches Denken wie heute habe es nicht gegeben: „Klar war nur, dass sich die meisten Leute eher zu den Westmächten als zu den Russen hingezogen fühlten – auch wir Kinder, denn die Amis hatten die viel bessere Technik.“

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