Landeshauptstadt: Kein Durchblick
Die Versorgungslage im Bezirk Potsdam in den 80er Jahren – von der DDR-Staatssicherheit dokumentiert
Stand:
DDR-Wirtschaft – das bedeutete Mangelwirtschaft, die sich in einer schlechten Versorgungslage der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen niederschlug. Dokumente der DDR-Staatssicherheit, die in der Potsdamer Außenstelle der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) gefunden und aufgearbeitet wurden, geben jetzt erstmals ausführlich Auskunft über die tatsächliche Versorgungslage im damaligen Bezirk Potsdam in den 80er Jahren. Wir möchten unseren Lesern diesen Einblick in eine nicht allzu entfernte Vergangenheit vermitteln. Teil 4: Versorgung mit Sehhilfen.
Was es mit dem gern geglaubten Mythos des gut funktionierenden DDR-Gesundheitssystems tatsächlich auf sich hatte, zeigt das Beispiel der Brillenproduktion in den Volkseigenen Betrieben Rathenower Optische Werke - kurz VEB ROW. Der Informant Herbert Lange setzte die Abteilung XVIII/2 der Staatssicherheit am 5. September 1983 über im VEB ROW eingeleiteten „Maßnahmen zur Überwindung der Probleme bei der Versorgung der Bevölkerung der DDR mit Sehhilfen“ in Kenntnis. Die Bevölkerung benötige zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 60 Prozent Rezeptgläser und weniger als 40 Prozent sogenannter Seriengläser. Seiner Einschätzung nach, lag die Ursache in einer neun Jahre zuvor getroffenen Fehleinschätzung der Bedarfsentwicklung. Diese hatte das Verhältnis von Rezept- und Seriengläsern genau andersherum angenommen. Inzwischen habe sich die Qualität der Augenuntersuchungen durch verbesserte technische Möglichkeiten erhöht und die Festlegung des Brillentyps erfolge nun mittels Rezept. Eine Umrüstung des Maschinenparks könne aber unmöglich kurzfristig vorgenommen werden, da dieser total verschlissen und überaltert sei.
Jeder inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit hatte einen Führungsoffizier, welcher Instruktionen erteilte und die Berichte entgegennahm. Die Bewertung der Information des inoffiziellen Mitarbeiters (IMS) Herbert Lange zur Bedarfseinschätzung an Plastlinsen durch das VEB ROW erfolgte durch Hauptmann Walczak. Er bescheinigte seinem Informanten entsprechende Fachkenntnisse für die Beurteilung der dargestellten Situation. Im folgenden zeigt sich Walczak völlig unbeeindruckt von den an ihn herangetragenen Informationen, mit denen schließlich Missstände aufgedeckt werden sollen. Lapidar stellte er fest, dass die von seinem Informanten gebrachte Darstellung der oberflächlichen Bedarfseinschätzung im ROW mit der vor schon 10 Jahren fehlgegangenen Untersuchung der Entwicklung von Sehhilfen in der DDR entspreche. Die seit Jahren bestehende Situation der ungenügenden Versorgung der DDR-Bevölkerung mit Rezept- und Spezialgläsern sei einzig auf die oberflächliche und lückenhafte Bedarfseinschätzung der Leitung des ROW zurückzuführen.
Mehr als zwei Jahre später, am 20. November 1985, informierte Herbert Lange die Abteilung XVIII/2 zu Aspekten der Umsetzung des Sehhilfenprogramms im VEB ROW. Eine Schwerpunktaufgabe sei die Brillenfassungsproduktion. Man engagiere sich für Brillenfassungen mit einer höheren Qualität für gehobene Ansprüche. Diese Entwicklung solle bis Januar 1986 soweit vorangetrieben werden, „dass wir dann die ersten Fassungen auf den Tisch legen können“. Um dieses Ziel erreichen zu können, wurde von der Fassungsentwicklung eine Richtlinie erarbeitet, „dass man Vorschläge erbringt und von der jetzigen langen Entwicklungszeit von ca. 60 - 80 Wochen, eine Entwicklungszeit von 40 Wochen erreicht“. Ein Genosse gab zu Bedenken, „dass wir nicht die 40 Wochen als Ziel ansehen, sondern Vergleiche zur Konkurrenz, der BRD-Firma Rodenstock ziehen sollen, die in der Lage sind, Brillenfassungen innerhalb von 6 Wochen überzuleiten“. Die Rezeptglasfertigung beanspruchte längere Bearbeitungszeiten, da ein Zulieferer Linsen mit einem falschen Brechungsindex lieferte. Dieses Problem sei ein Grund für die Nicht-Einhaltung des Sehhilfeprogrammes. Da der zum Kombinat Buna gehörende Betrieb Eilenburg die geforderten Materialgüten an Acetatplatten nicht liefern konnte, mussten diese aus dem NSW (nichtsozialistisches Ausland, die Red.) für 6 Millionen Valutamark (VM) importiert werden. Aus diesem Material ließen sich 600 000 bis 800 000 Fassungen herstellen und sollten mit einem Preisaufschlag von 40 bis 50 Mark pro Stück verkauft werden.
Am 7. August 1989 schreibt IM Herbert Lange an Abteilung XVIII/2 wieder über Probleme in den ROW. Die Planaufgaben 1990 könnten nur durch Sortimentsbereinigung bzw. Auslagerung der Produktion erfüllt werden. Die frei werdenden Kapazitäten würden zur Produktion von NSW-Exportgütern eingesetzt. „Zur Feststellung des Weltstandes bei Brillenfassungen wurden 100 - 120 Fassungen verschiedener Fabrikate in der BRD eingekauft. Vergleiche haben ergeben, dass das ROW-Design zu konservativ ist und nicht dem Weltstandard entspricht. Es sollen nun bestimmte Fassungen nachgebaut werden.“
Unser Autor Johannes Limberg ist in Babelsberg geboren, ist Student der Neueren und neuesten Geschichte, der Politikwissenschaften und Philosophie an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster. Derzeit hält er sich als Erasmus-Stipendiat an der Universität Bergen in Norwegen auf. Zuvor war er Praktikant in der Potsdamer Außenstelle der BStU. Die Außenstelle wird am Jahresende geschlossen.
Johannes Limberg
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