Links und rechts der Langen Brücke: Kein Klassenkampf
Sabine Schicketanz über eine weit verbreitete Legende um den Ufer-Streit am Griebnitzsee
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Das Bild scheint festzustehen: Am Griebnitzsee tobt der Klassenkampf. Proletarier gegen Kapitalisten, Arme gegen Reiche, Ostler gegen Westler. So sieht man es in der Stadt, so sieht man es von außen. Aber stimmt es eigentlich? So verlockend es sein mag: Das Bild ist falsch, es ist verzerrt. So leicht lässt sich die bizarre Auseinandersetzung um den Uferweg nicht fassen – ginge es allein um Geld und Macht, wäre sie schon längst beendet.
In Wahrheit ist der Konflikt eine Erprobung der Gesellschaftsform, der Demokratie. Es geht um das Recht des Einzelnen und das Recht des Volkes, um gefühltes und gewährtes Recht. Es geht um den Wert und Schutz des Eigentums, und gleichsam um den Wert und Schutz des Allgemeinwohls. Der Griebnitzsee-Streit ist ein Phänomen, das alles vereint, was zu den Grundlagen unseres Staatswesens, aber auch zur deutschen Geschichte und zur deutsch-deutschen Gegenwart gehört. Ab 1933 wurden jüdische Eigentümer von Seegrundstücken von den Nazis enteignet, später kassierte das DDR-Regime Grundstücke, um seine Grenze zu bewachen. Nach dem Mauerfall blieb der einstige Ufer-Postenweg der Grenztruppen offen, 19 Jahre, formal nun Eigentum der Bundesrepublik Deutschland. Gut die Hälfte gehört dem Bund heute noch. Andere Teile wurden an Familien früherer Eigentümer rückübertragen, wieder andere konnten nach Mauergesetz kaufen, manche kauften später ganz regulär vom Bund. Villen und Gärten wechselten rege die Besitzer, Filetstücke im Potsdamer Monopoly.
Die Interessenlage also ist so vielfältig wie Menschenleben und Zeitenläufe nur sein können. „Die“ Villenbesitzer, die gegen einen Uferweg sind, gibt es nicht. Es sind einige von ihnen. „Das“ Potsdamer Volk, das unverzüglich enteignen will, gibt es ebenso wenig. Es sind einige, die dies wollen. Alle werden vertreten durch frei gewählte Volksvertreter, die im Stadtparlament, im Landtag, in der Stadtspitze, in der Landesregierung Politik – und, gerade jetzt, auch Wahlkampf – machen. Alle Beteiligten haben die Freiheit, für ihre Interessen einzustehen, sie zu äußern, juristisch prüfen zu lassen. Dass dabei jene mit Geld einen langen Atem haben, gehört genauso zur gesellschaftlichen Realität wie die Ausgaben für die Gerichtsverfahren aus der Staatskasse.
Ein Ende im Griebnitzsee-Konflikt wird es erst geben, wenn ein Interessenausgleich gefunden ist. Das kann auch Enteignung sein, ganz rechtsstaatlich. Wenn Demokratie sich beweisen muss, wird es mühsam, schmerzlich, teuer - auch am Griebnitzsee, am früheren Todesstreifen. Das ist Demokratie.
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