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Von Nicola Klusemann: Kein Raum zum Chillen

Drogenabhängige erfahren im Regelwerk der Suchthilfe Parceval in Groß Glienicke neue Freiheiten

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Wer durch das Tor hinaus geht, gilt als Abbrecher. Um fern von der Versuchung zu sein, halten sich die Jugendlichen deshalb lieber im Hof auf und rauchen eine von acht Zigaretten Tagesration. Am Haus der Suchthilfe-Einrichtung Parceval in Groß Glienicke verhindern weder Gitter noch Wachposten das Abhauen. Vielmehr setzt das harte Regelwerk spürbare Grenzen.

Die jugendlichen Teilnehmer des Antisuchtprogramms begegnen Besuchern mit Höflichkeit. Die gehört, wie weitere 17 sogenannte Items zu den Verhaltensvorschriften. Hält man sich nicht daran, drohen Konsequenzen. „Für jeden Verstoß eine Zigarette weniger und zehn Minuten Arbeiten am Sonntag“, sagt Max*, 15 Jahre alt aus Berlin und seit einem halben Jahr hier. Am Anfang kämen schnell zwei Stunden Arbeitseinsatz am Wochenende zusammen. „Irgendwann hat man“s aber raus“, sagt Tom* aus dem Spreewald, ebenfalls 15 und schon über ein Jahr in Groß Glienicke. Der Tag ist klar strukturiert, beginnt mit sechs Uhr aufstehen, Frühsport, Frühstück und Befindlichkeitsrunde, „wo alle sagen, wie es ihnen geht“, erklärt Max. Es folgen Arbeitseinsätze, Mittagessen und Pause, dann Schule, Sport, Therapie, Gespräche und Vesper. Also das Gegenteil von dem, was die drogenerfahrenen Jugendlichen vorher lebten. „Das hier ist kein Ort zum Chillen“, sagt die 17-jährige Tanja* aus Sachsen. „Die Regeln nerven, sind aber auch hilfreich“, sagt Lina*, 16, aus Berlin-Kreuzberg. Sie habe zwei Jahre lang die Schule geschwänzt, bis ihre Mutter sie herbrachte. „Die hat mich voll verarscht und erzählt, das sei ein Internat und ich bin in 14 Tagen wieder zu Hause.“ Inzwischen ist sie anderthalb Jahre im Parceval-Programm.

Das sei auch die durchschnittliche Verweildauer in Phase 1, erklärt Oliver Leber, Leiter der suchttherapeutischen Einrichtung in Groß Glienicke. Über vier Stationen würden die Jugendlichen in ein selbstständiges und drogenfreies Leben geführt. Parceval sei 2000 im Haupthaus Kladow gegründet worden, nachdem man in der Entgiftungsstation des dort ansässigen Gemeinschaftskrankenhaus vermehrt immer jüngere Patienten aufnahm. „Inzwischen agieren wir bundesweit“, sagt der Leiter, mit Einrichtungen in Berlin, Brandenburg, Sachsen und Hessen. Man arbeite im anthroposophischen Sinne mit reformpädagogischem Ansatz, erklärt der Leiter. Die Pädagogen, die die Jugendlichen zu Haupt- und Realschulabschlüssen führten, seien alle Waldorf-Lehrer. Auch würden den Jugendlichen Ausbildungsmöglichkeiten zum Hauswirtschafter, Bürokaufmann oder Jugend- und Kindererzieher geboten. „Letzteres wollen einige werden, wenn sie unsere Arbeitsweise hier kennengelernt haben“, sagt der Koordinator in Groß Glienicke.

Tanja möchte tatsächlich etwas Soziales machen, Tom will Koch und Max Karosseriebauer werden und Lina träumt von einer Karriere als Tänzerin. Das Träumen fällt leicht in diesem stark strukturierten Umfeld. „Den Jugendlichen wird hier eine Menge abverlangt, wir sind alles andere als ein niederschwelliges Angebot“, erklärt der Heilpädagoge. Das zu Mauern aufgetürmte Regelwerk eröffnet offenbar überraschende Perspektiven, gibt Sicherheit und Vertrauen. Von der Vergangenheit erzählen die vier Jugendlichen ungern, nur aus Höflichkeit. Ihm habe wegen wiederholten Dealens mit Cannabis der Jugendarrest gedroht; da sei er freiwillig nach Groß Glienicke gegangen, sagt Max. Tom schlug sich im Rausch durchs Leben und musste sich schon wegen Körperverletzung vor Gericht verantworten. Tanja sagt, sie sei auf dem Amphetamin Chrystal „hängen geblieben“. Lina hat so ziemlich alles probiert. Es sei „in bestimmten Kreisen“ einfacher an „Stoff“, als an Alkohol an der Tankstelle zu kommen. Bis Max, Tom, Tanja und Lina allerdings in ihr neues Leben entlassen werden, brauchen sie noch lange Begleitung. Sie fühlen sich stark auf dem Hof, umschlossen von Ziegelsteinbauten. Die vielen Aufgaben halten sie fest, sie lernen Verantwortung für andere und sich selbst. Ein weiter Weg Par-ce-val, was aus dem Französischen übersetzt heißt: „Durch dies Tal“.

(*Namen geändert)

Nicola Klusemann

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