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Von Martina Liebnitz: Kein Zufluchtsort

Ein konträres Bild: Familie spielt in HFF-Filmen oft eine Rolle

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Ein schwarzes Studio, Schachbrett-Boden, in der Mitte ein Stuhl. Sieben Männer nehmen Platz und erzählen aus ihrem Leben: Die Brüder Hufschmidt aus Mühlheim a. d. Ruhr, geboren zwischen 1929 und 1945. „Es ist die Generation meiner Eltern“, erzählt Sebastian Winkels. „Ich wollte wissen, was Familie eigentlich ist und was die Brüder verbindet“. „7 Brüder“ (2003), sein Abschlussfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“, ist bestes Erzählkino im Wortsinn. Sprechende Köpfe, ein nur gelegentlich wechselnder Kamerastandpunkt sind für einen Dokfilm formal ein Wagnis. Winkels baut auf die Kraft der Erinnerung, Sprache, Mimik, Gestik und verzichtet auf alles, was ablenken könnte. So entsteht das außergewöhnliche Porträt einer deutschen Durchschnittsfamilie aus sieben Monologen – ohne Bekenntnisse, Geheimnisse oder Konflikte mit Eltern und Geschwistern. Uns begegnen zufriedene Menschen, die mit Beharrlichkeit ihren Weg gingen. „7 Brüder“ lief auf vielen Festivals, im Kino und im Fernsehen – hochgelobt und mehrfach ausgezeichnet.

Wohl kein anderer HFF-Film präsentiert Familie so unwidersprochen als Lebensmodell. Vor allem die Langfilme der letzten Jahren transportieren ein eher konträres Familienbild. Es sind tief verstörte Familien, die junge Filmemacher faszinieren, und die Protagonisten meist Jugendliche und junge Erwachsene. „Vier Fenster“ (2005) von Christian Moris Müller zeigt eine Familie, die zusammen wohnt, sich aber nichts mehr zu sagen hat – hinter der Fassade Ausbrüche hilfloser Gewalt, sogar Inzest. „PingPong“ (2006) von Matthias Luthardt, auf dem Filmfestival in Cannes mehrfach ausgezeichnet, ist das Psychogramm einer Familie des gehobenen Mittelstandes: ödipales Begehren, hilflose Einsamkeit und eine verlogene Idylle kurz vor der Implosion. Den ganz allmählichen Zerfall einer Familie analysiert „Jagdhunde“ von Ann-Kristin Reyels (2006). Sprachlosigkeit und Ignoranz auch hier. Alle sind auf der Suche, doch mit verstelltem Blick chancenlos. Bedrückend realistisch zeichnet Robert Thalheim eine problematische Vater-Sohn-Beziehung in „Netto“ (2004). Er gibt beiden eine Chance. In „9 Szenen“ (2006) wirft Dietrich Brüggemann ausnahmsweise einen humorvollen Blick auf deutsche Mittelschichtler und deren Autoritäts- und Generationsprobleme.

Die Perspektive der Schwächsten, der Kinder, findet sich eher in den kurzen Filmen. Die siebenjährige „Stella“ (2006), die ihren betrunkenen Vater nachts nach Hause lotsen muss, liebt ihn dennoch bedingungslos. Der Junge in „Mein Erlöser“ (2003) ist einsam und findet Trost in der Musik. Nele in „Platz im Schatten“ (2007) bleibt sich selbst und der Langeweile überlassen, während „Olli“ (2005), von seiner chaotischen Familie genervt und unverstanden, sich in die Phantasie flüchtet. „Effi“ (2004) wünscht sich eine normale Familie und die Eltern der „Oasenkinder“ (2006) – einer der wenigen Dokumentarfilme zum Thema – haben keine Zeit, kein Interesse und häufig Probleme mit dem Alkohol.

„Viele unserer Filme zeigen Familie eher als eine Sphäre der Sprach- und Beziehungslosigkeit, kaschiert durch einen routinierten Alltag, der zum Korsett für sinnentleerte Bindungen wird“, resümiert Corinna Erkens aus dem HFF-Filmarchiv. „Längst ist die Familie kein Zufluchtsort mehr. Schutz und Geborgenheit gibt es nicht. Selten werden Konflikte wirklich gelöst. Am Ende bleiben meist Resignation und Stagnation und der zwanghafte Wunsch, der Familie schadlos zu entkommen.“

Seit vor achtzig Jahren der erste der sieben Brüder geboren wurde, hat sich vieles verändert. Manches ändert sich aber nie. Wie wohl das Porträt einer heutigen Durchschnittsfamilie aussehen würde, das ein Filmstudent in fünfzig Jahren drehen wird? Vermutlich ganz anders, als es das Familienbild der aktuellen Filme vermuten lässt, denn – wie sagt man – auch eine miserable Gegenwart ist irgendwann eine gute alte Zeit.

Martina Liebnitz

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