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Landeshauptstadt: Keine Noten dank Inklusion

Experten empfehlen: Schulen soll es möglich sein, bis zur achten Klasse keine Zensuren zu geben

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Wie sollen Lehrer die Leistungen von Schülern mit Behinderungen bei einem Test in einer allgemeinen Schule beurteilen? Leisten die Kinder mehr oder weniger im Vergleich zu ihren Mitschülern ohne Behinderungen? Ein bislang ungelöstes Problem ist in Brandenburg, wie ein gerechtes Bewertungssystem in einer inklusiven Schule aussehen könnte. Eine erste Antwort hat nun der wissenschaftliche Beirat des Pilotprojekts „Inklusive Grundschule“ der Landesregierung vorgelegt. Demnach sollen alle Schulen die Möglichkeit erhalten, bis zur achten Klasse die Leistungen ihrer Schüler „nicht mit Ziffernzensuren, sondern mit einer verbalen kompetenzbasierten Rückmeldung“ zu beurteilen, heißt es in dem Bericht, den der Beiratsvorsitzende Wilfried Steinert jüngst im Bildungsausschuss im Landtag vorstellte.

Der rund 50-seitige Bericht gibt erstmals Empfehlungen an die Landesregierung, wie Inklusion in den nächsten Jahren vorangetrieben werden soll und welche Weichen zu stellen sind. Neben Gesetzesänderungen schlägt der Beirat, dem zehn Bildungswissenschaftler und Pädagogen aus der gesamten Bundesrepublik angehören, auch die Entwicklung neuer Lehrpläne und Fortbildungen vor. Außerdem gibt der Expertenkreis Empfehlungen zur finanziellen Ausstattung der künftigen Inklusionsschulen ab.

Der Abschied von Zensuren bis zur achten Klasse solle an den Schulen schrittweise erfolgen, so Steinert, ehemaliger Leiter der Templiner Waldhofschule, eine der Brandenburger Vorzeigeschulen in Sachen Inklusion. Solange weiterhin bei Klassenarbeiten Noten verteilt werden, sollten Lehrer mit dem Zusatz arbeiten: „Die Bewertung ist an den jeweiligen Lernzielen orientiert.“ Schließlich werden auch in den Tests unterschiedliche Aufgaben gestellt.

Bei Brandenburger Bildungspolitikern stößt ein Lernen ohne Noten auf Widerstand: „Ich tue mich schwer damit, im inklusiven Schulsystem auf Noten zu verzichten“, sagt der CDU-Politiker Gordon Hoffmann. Noten seien sehr anerkannt als Rückmeldung zur Bewertung. „Darauf zu verzichten, kann ich mir nicht vorstellen.“ Auch der FDP-Fraktionsvorsitzende und bildungspolitische Sprecher Andreas Büttner argumentiert, es brauche Vergleichsmöglichkeiten als Leistungsanreiz. „Unsere Gesellschaft tickt so.“ Zwar könne es zusätzliche verbale Differenzierungen geben, einen Wegfall von Zensuren würde seine Partei allerdings auf keinen Fall befürworten.

An vielen Schulen in Brandenburg sind es die Eltern, die entscheiden, ob mit Beginn der zweiten Klasse ihre Kinder Noten erhalten. An der Potsdamer Rosa-Luxemburg-Grundschule wurde in den vergangenen Jahren die notenfreie Zone bis in die vierte Klasse, die sogenannte flexible Eingangsphase, ausgedehnt. Die Lehrer sollen ihre Schüler stattdessen durch differenzierte Beschreibungen motivieren. Auch in einigen Freien Schulen in Potsdam wird komplett auf Benotung verzichtet – so in der Aktiven Schule oder in der Waldorfschule. In den Zeugnissen stehen stattdessen die Persönlichkeitsentwicklung und die Lernfortschritte im Mittelpunkt.

„In der inklusiven Schule verlieren Vergleichsnoten ihre Berechtigung als selektive Instrumente“, sagt auch die Paderborner Pädagogikprofessorin Anne Ratzki. Wenn es Förderpläne gebe und Prüfungsverfahren, die sich an den Kompetenzen der Schüler orientieren, müsste auch der individuelle Lernfortschritt ins Zentrum der Bewertung rücken, so Ratzki. „Gleiche Leistungen zur gleichen Zeit von allen Schülerinnen und Schülern zu verlangen ergibt keinen Sinn mehr.“

Als erstes Bundesland setzt derzeit Schleswig-Holstein Reformpläne um, die den Verzicht auf Noten bis zur achten Klasse offiziell erlauben. An manchen Gemeinschaftsschulen wird bereits auf Notenzeugnisse verzichtet. Im leistungsstarken Finnland legen die Schüler ihre ersten benoteten Tests erst mit 16 Jahren ab.

Die Expertenkommission um Wilfried Steinert schlägt noch weitere Maßnahmen auf dem Weg zu einem inklusiven Schulwesen vor. So soll die Wilhelm-von-Türk-Schule mit dem Förderschwerpunkt Hören und Sprache in ein landesweites Förderzentrum umgewandelt werden. Die Schule am Bisamkiez soll für die fachliche Beratung aller Brandenburger Schulen und für spezielle Fortbildungen zuständig sein, die Schüler perspektivisch in wohnortnahen Grundschulen unterrichtet werden.

Stärker als bisher müssen nach Expertenmeinung auch die Träger freier Schulen in alle Landesmaßnahmen einbezogen werden. „Schulen in Freier Trägerschaft erhalten die vergleichbaren Ressourcen für inklusive Bildung wie die staatlichen Schulen“, empfiehlt der Beirat. Im Gegenzug sollen auch sie inklusive Konzepte vorlegen und umsetzen.

Grit Weirauch

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