Landeshauptstadt: Keine Routine
Andrea Wicklein sitzt bereits seit 2002 im deutschen Bundestag. Ein „dickes Fell“ hat sie aber immer noch nicht
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In den ersten Monaten wirkte sie noch etwas verloren in den hohen Hallen der Macht. Im Jahr 2002 wählten die Potsdamer Andrea Wicklein (SPD) direkt in den Bundestag. Ihr Arbeitsplatz wurde der alte Reichstag in Berlin, ein imposantes Gebäude, das den Menschen kleiner erscheinen lässt, als er ist. Wohl auch deshalb wurde die gläsernen Kuppel von Architekt Norman Foster so ein Erfolg: Jährlich steigen hunderttausende Touristen dem alten Koloss aufs Dach und dürfen den Abgeordneten beim Debattieren zuschauen, von oben herab.
Wenige Jahre und viele Erfahrungen später muss die Babelsbergerin am Eingang nicht einmal mehr ihren Ausweis zeigen, sie wird von den Wachleuten erkannt. Sicher führt sie Gäste aus dem Wahlkreis durch die Flure, lotst sie in die richtigen Fahrstühle, zeigt die schönsten Sichtachsen, hinüber zum Kanzleramt, hinunter zur Spree. Aus der Politdebütantin mit Direktmandat ist ein erfahrener Profi geworden. Im SPD-Fraktionssaal zeigt sie auf einen Stuhl und wird fast ein wenig nostalgisch, wenn sie sagt: „Hier saß der Kanzler, das waren noch Zeiten.“ Gerhard Schröders knappe Kanzlermehrheit von drei Stimmen hat es Andrea Wicklein zu verdanken, dass sie mehr als einmal die hektischsten Minuten des deutschen Parlamentarismus mitmachen musste, den „Hammelsprung“.
Wenn die Opposition hofft, dass die Regierungsmehrheit nicht sicher ist, beantragt sie namentliche Abstimmung. Alle Abgeordnete verlassen den Saal und müssen durch drei Türen wieder eintreten, die für Ja, Nein oder Enthaltung stehen. Der Name „Hammelsprung“ ist abgeleitet von einem Intarsienbild im alten Reichstag, das einen Zyklopen zeigt, der seine Schafe zählt. Beim Hammelsprung, erzählt die Abgeordnete, ertönt ein lautes ohrenbetäubendes Signal in den Bundestagsräumen – „und dann muss man rennen, wo der Weg ist“. Bisweilen wurden sogar Abgeordnete aus dem Krankenhaus herangeschafft, um die knappe Mehrheit Schröders zu sichern. Andrea Wicklein rannte einmal von ihrem Büro aus vier Etagen die Treppen herunter, weil ihr der Fahrstuhl zu langsam erschien – nur um rechtzeitig durch die richtige Tür zu gehen.
Das Ende der rot-grünen Koalition bezeichnet Andrea Wicklein heute als „den bewegendsten Moment“ ihrer Abgeordnetenzeit. Sie saß gerade zu Hause beim Spargelessen, als sie nach der von der SPD verpatzten Wahl in Nordrhein-Westfalen von den vorgezogenen Bundestags-Neuwahlen erfuhr. Damit war „das rot-grüne Projekt auf einen Schlag beendet“ – und auch eine Initiative der Potsdamerin zur besseren Nutzung von Biomasse-Kunststoffen. „Ich hatte es bis zur ersten Lesung im Bundestag gebracht – und dann war es vorbei.“ Sofort befand sich Andrea Wicklein wieder im Wahlkampf, den sie aber erfolgreich meisterte: Sie erhielt 40,7 Prozent der Erststimmen und verwies Rolf Kutzmutz (PDS, jetzt Die Linke) und Katherina Reiche (CDU) auf die Plätze.
„Insgesamt“ ist Andrea Wicklein zufrieden mit der Großen Koalition. Viele Dinge, die schon vorher beschlossen wurden, konnten dennoch umgesetzt werden, „den Kita-Ausbau, die Kindergelderhöhung, das Ganztagsschulprojekt“, zählt die Potsdamer Sozialdemokratin auf. Angela Merkel sei sehr locker; als sich die Kanzlerin in der SPD-Fraktion vorstellte, habe die Regierungschefin gewitzelt: „Ich kriege hier ja mehr Applaus als in meiner eigenen Fraktion.“
13 oder 14 Mal hat Andrea Wicklein bereits vor dem großen Plenum des Bundestages gesprochen. „Prickelnd“ sei das, besonders am Donnerstagvormittag, wenn „Kernzeit“ ist im Bundestag und fast alle Abgeordnete anwesend sind, auch die Kanzlerin, die nur wenige Meter rechts hinter dem Rednerpult sitzt. Den Blick Merkels auf der Schulter spürend, die Redezeit-Uhr vor sich, die rückwärts läuft und die Rest-Rede-Zeit anzeigt, auf den Rängen die Kameras – „es wird nie Routine“, versichert Andrea Wicklein. Einmal, da hatte sie nur noch eine Minute Zeit, aber noch fünf Seiten Text vorzutragen: „Da kommt es darauf an, Seiten wegzulassen, ohne das es jemand merkt.“
Zu den gegenwärtigen Zielen Andrea Wickleins gehört die Beibehaltung des Förderprogramms Gemeinschaftsaufgabe (GA) zur Verbesserung der Regionalen Wirtschaftsstruktur in bisheriger Höhe. Die GA-Mittel sollen um 50 Millionen Euro gekürzt werden „und ich will mich dafür einsetzen, dass das nicht passiert“, sagt die Potsdamerin resolut. Das Land Brandenburg bekommt allein 90 Millionen Euro aus dem GA-Topf.
Trotz der Bundestagsjahre nimmt Andrea Wicklein für sich in Anspruch, weder zynisch noch unsensibel geworden zu sein: „Ich versuche, mein dünnes Fell zu behalten“, sagt sie. Mit einem dicken Fell sei man in der Politik fehl am Platz.
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