Landeshauptstadt: Keine Zeit für Selbsthilfe
Annette Sperfeld pflegt seit Jahren ihren Mann. Beim Besuch in der Tagespflege erzählt sie von ihrem Alltag
Stand:
Den Garten vermisst sie. Das kleine Paradies hinter dem Mietshaus in Potsdam-West. Doch zum Schluss wurde die Gartenarbeit zu viel, oder sie stand oben in der Küche und ihr Mann saß unten alleine im Garten. „Jetzt ist es besser“, sagt Annette Sperfeld, eine kleine, adrett gekleidete Frau. „Ich kann in der neuen Wohnung in der Wohnküche was erledigen und Frank liegt auf der Couch. Wir sind zusammen, das ist doch schön.“
Das Zimmer im Bürgerstift in der Ludwig-Richter-Straße, einer Einrichtung des Evangelischen Zentrums für Altersmedizin (EZA), ist so hergerichtet, dass ein wenig Behaglichkeit aufkommen mag. Zwischen Polsterstühlen und Schrankwand sitzt das Ehepaar Sperfeld am Kaffeetisch. Er im Rollstuhl, sie agil neben ihm. Sie spricht, beantwortet Fragen, hat dabei immer den Mann im Blick: Möchte er etwas sagen, etwas trinken? Wird er müde?
„Frank-Werner“, antwortet er auf die Frage nach seinem Vornamen. Nach mehreren Schlaganfällen und der Diagnose Parkinson ist er stark pflegebedürftig. Jetzt ist er 70 Jahre alt, und dass er sich an seinen zweiten Vornamen erinnert, das sei eine starke Leistung, sagt seine Frau gerührt. Seit etwa vier Jahren kümmert sie sich intensiv um ihren Mann, der von Jahr zu Jahr, manchmal von Monat zu Monat abbaute, hilfloser wurde. Seit 2012 kommt er zwei Mal in der Woche zur Tagespflege in den Bürgerstift, ein Fahrdienst holt ihn, dann verbringt er einige Stunden mit anderen Patienten und Betreuern. Abends ist er wieder zu Hause. Eine große Erleichterung für Annette Sperfeld. Wenn sie mit ihm allein ist, hat sie zu tun: Haushalt, kochen, den Mann betreuen, ihn zur Toilette begleiten. Um das zu tun, muss man mit jemandem sehr vertraut sein, findet sie. Und es ist körperlich schwere Arbeit. Die Physiotherapeutin gab ihr schon Tipps, wie sie den kräftigen Mann bewegen kann, ohne ihren Rücken kaputt zu machen. Das wäre eine Katastrophe. „Frau Sperfeld braucht mal zwei Wochen Urlaub“, sagt die Pflegedienstdirektorin des Hauses, Dietlind Jander.
Frau Sperfeld schaut auf die Tischplatte. Urlaub sei ja geplant, eine Woche für beide in einer Spezialeinrichtung für Menschen mit Behinderungen. „Da muss ich wenigstens nicht kochen.“ Sie wird auch nicht zur Arbeit gehen. Zwei Mal in der Woche, immer wenn Frank Sperfeld im Bürgerstift betreut wird, steht sie im Verkaufswagen einer Fleischerei auf dem Markt. Seit 30 Jahren arbeitet die 61-Jährige in diesem Geschäft, sie ist froh, dass ihr Chef ihr die Teilzeitoption eingeräumt hat. Vorher, bevor die Kinder kamen, arbeitete sie als Informatikerin. Das ist lange her, ebenso lange, dass sie in Dresden ihren Mann kennen lernte. Der Orgelbauer aus Potsdam, Firma Schuke, sollte in der Kirche ihrer Gemeinde eine Orgel einbauen. Annette und Frank verliebten sich, sie folgte ihm nach Potsdam. „Immer in Potsdam-West gewohnt“, sagt sie, bis sie dann doch in eine barrierefreie Wohnung umziehen mussten. Die 17 Stufen in den ersten Stock – das war zu viel. „Wir waren immer heile froh, wenn wir oben angekommen waren“, erinnert sie sich.
Zuerst ging es ja noch ganz gut, Frank Sperfeld bekam einen Rollator, war damit selbständig, fuhr Straßenbahn. Dann ging es nur mit Begleitung, Arztbesuche, Therapien. „Aber Bewegung soll ja gut sein“, sagt seine Frau pragmatisch. Heute fährt sie Auto, den Mann hievt sie auf den Beifahrersitz, der Rollstuhl kommt in den Kofferraum. „Ich hoffe, lange gesund zu bleiben“, sagt sie, wenn sie nach ihrer Situation und Zukunft gefragt wird. Notfalls werde sie das Betreuungsprogramm aufstocken müssen. Was es da für Möglichkeiten gibt, dazu fühlt sie sich vom EZA gut beraten. Auch bei der Beantragung eines Wohnberechtigungsscheins und des Behindertenausweises brauchte sie Hilfe, das war anstrengend.
Eine weitere Belastung, die pflegende Angehörige wie sie aushalten müssen, ist häufig das Gefühl, in dieser Phase allein zu sein. So fühlen sich viele isoliert, weil längst nicht alle öffentlichen Räume barrierefrei sind, auch nicht alle Arztpraxen, wie Annette Sperfeld anmerkt. Und ihr fehlt mehr und mehr ein Gesprächspartner, der Ehemann ist das nur noch selten. „Er liegt halt auf der Couch, schläft viel, schaut Fernsehen – oder schaut sich die Welt von innen an“, sagt sie. Und man gewinnt den Eindruck, dass es häufig der Humor ist, der Annette Sperfeld tagtäglich ihr Pensum bewältigen lässt. „Freunde der Kirchgemeinde geben mir Kraft“, sagt sie selbst, und die wöchentlichen Chorproben. Einmal im Jahr eist sie sich sogar los zu einem ganzen Chor-Wochenende. Für eine Selbsthilfegruppe für pflegende Familienmitglieder hätte sie gar keine Zeit, sagt Frau Sperfeld.
„Das ist typisch, wenn ein Ehepartner den anderen pflegt“, sagt Dietlind Jander. „Man steht praktisch unter Hausarrest. Es dauert lange, bis man merkt, dass man auch etwas für sich selbst tun muss. Und es braucht Überwindung.“ „Das stimmt“, sagt Frau Sperfeld. Sie weiß ihren Mann zwar in guten Händen, wenn sie weggeht, spürt aber beim Heimkommen manchmal, dass er sie während ihrer Abwesenheit vermisst hat. Und so sind sie nach Möglichkeit zu zweit unterwegs, gehen in Orgelkonzerte, sofern man bequem mit dem Rolli in die Kirche kommt, besuchen das Theater. Zuletzt sahen sie „Wie im Himmel“, schwärmt Annette Sperfeld. Und weil sie nur selten Einladungen von Freunden zu denen nach Hause annehmen können – wer hat schon einen Fahrstuhl? – machen sie es nun umgekehrt: Sperfelds laden selbst ein, in ihre barrierefreie Wohnung.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: