zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: „Keine Zuckerwatte-Diktatur“

Jutta Fleck in der „Lindenstraße 54“: „Die Frau vom Checkpoint Charly“ kämpft gegen das Vergessen

Stand:

Hinter den Fenstergittern schälen die letzten Sonnenstrahlen eine wilhelminische Knastsilhouette aus der einbrechenden Nacht. Der Grund des Innenhofes liegt schon im Dunklen. Kaltes Deckenlicht erhellt den flurartigen Raum im Obergeschoss der Gedenkstätte Lindenstraße 54. Im „Lindenhotel“ saßen die politisch Unliebsamen der beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts ein, Kommunisten wie Werner Seelenbinder unter Hitler oder „Republikflüchtlinge“ und „Agenten“ unter Ulbricht und Honecker, von denen einige nun in den sich schnell füllenden Raum drängen. Schon müssen noch Stühle herein getragen werden.

Das Interesse gilt einer Frau, die ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat. An der Rückwand des Podiums hängt ein Transparent mit der Aufschrift „Gegen das Vergessen“. Vor wenigen Tagen ist die Frau mit dem Pferdeschwanz wie ein überheller Komet über die einbrechende Dunkelheit des schwindenden öffentlichen Geschichtsbewusstsein erschienen. Heute heißt sie Jutta Fleck, als Jutta Gallus schrieb sie deutsch-deutsche Geschichte. Sie ist „Die Frau vom Checkpoint Charly“; den gleichnamigen Film mit Veronika Ferres in der Hauptrolle haben fast alle Anwesenden gesehen. Nun lesen Jutta Fleck und die Autorin Ines Veith aus dem gemeinsamen Buch. Es erzählt die Geschichte der starken Mutter, die mit einem Plakat in der Hand am berüchtigten Berliner Grenzübergang um ihre Kinder kämpfte.

Der Akzent der geborenen Dresdnerin wird selbst in Potsdam schnell überhört – markant an ihrer Stimme ist der Gleichklang von eigentlich Unvereinbarem, von Wärme und Entschlossenheit. Ihr Leitspruch, noch heute, lautet: „Die Zukunft gehört nicht den Zaudernden.“

Sie ist gerade geschieden, die eigene Mutter an Krebs gestorben, der zwölfte Ausreiseantrag abgelehnt, der Vater lebt schon lange im Westen – das ist 1982 die Situation der DDR-Bürgerin Jutta Gallus. Da bekommt sie „einen sicheren Tipp“, eine Schlepperorganisation könne sie rüber bringen, von Rumänien aus. Dort verliert sie ihre Papiere, statt an die DDR-Botschaft wendet sie sich an die bundesdeutsche, die Ersatzpapiere ausstellt. Nur kurz sind sie und ihre beiden Töchtern Claudia und Beate Bundesbürger. Die Aktion wird verraten, sie werden verhaftet und für zehn Tage auf dem Bukarester Flughafen interniert, bis sie eine Interflug-Sondermaschine auf den Boden der DDR zurück bringt. Jutta Gallus kommt ins Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Dresden, Bautzener Straße. Ihre beiden Töchter werden für ein halbes Jahr in das Kinderheim Munzig bei Meißen gebracht, anschließend dem leiblichen Vater übergeben, einem linientreuen DDR-Bürger.

Jutta Fleck und Ines Veith lesen abwechselnd aus dem Buch. Das Kapitel über die Haft im Frauengefängnis Hoheneck überspringt die Frau mit dem Pferdeschwanz, die Erinnerungen sind zu schmerzlich. Wörtlich zitiert Ines Veith das vom Dresdner Richter Manfred Kurze formulierte Urteil „im Namen des Volkes“: Die Angeklagte habe „eine ungefestigte Haltung“ eingenommen zu „unserer Staats- und Gesellschaftsordnung“ und sich schuldig gemacht „der versuchten unrechtmäßigen Nichtrückkehr in die DDR“. Sie wird zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. „Ich habe niemanden etwas getan, niemanden etwas weggenommen“ – nun sollte Jutta Gallus drei Jahre von ihren Kindern getrennt sein, da ist ihr klar: „Ich lebe in einer Diktatur“. Und es ist keine „Zuckerwatte-Diktatur“ à la „Good bye, Lenin“ – „eher zu bedauern als gefährlich“ , – wie sie zu spüren bekommt.

Am 17. Februar 1984 wird sie in einem als Bäckerei-Auto getarnten Fahrzeug als „Brötchenfracht“ in die Abschiebehaft nach Karl-Marx-Stadt, heute und vorher Chemnitz, gebracht. Ende März muss sie sich entscheiden: BRD ohne Kinder oder weiter Hoheneck. Sie entscheidet sich. „Ich gehe in die BRD, um mit allen Mitteln dafür zu kämpfen, dass meine Kinder zu mir kommen.“ Der zwischen DDR und BRD vermittelnde Anwalt Wolfgang Vogel warnt noch, „wer an die Öffentlichkeit geht, wird es bereuen, unser Arm reicht weit“. Doch Jutta Gallus ist keine entmündigte Ware des deutsch-deutschen Gefangenenfreikaufs. Sie will ihre Kinder zurück, beginnt einen Hungerstreik, besucht den Papst, kettet sich bei der KSZE-Konferenz in Helsinki an ein Geländer, wird mit einem Plakat in der Hand, darauf die Fotos ihrer Töchter, die Frau vom Checkpoint Charly. Am 13. August 1986 gelingt es ihr, im Reichstag während einer Gedenkveranstaltung ans Rednerpult zu drängen und ihre Forderung zu formulieren. Der „dicke Kohl“ drängt sie zur Seite mit den Worten „Jetzt ist aber genug“.

Am 28. August 1988 ist sie am Ziel: „Mami, Mami“ rufend entsteigen Claudia und Beate in West-Berlin dem Auto von Anwalt Vogel. Sie liegen sich in den Armen, weinen – und feiern fortan an jedem 28. August den „Moment des großen Glücks, unsere persönliche Wiedervereinigung“. Ob sich je einer ihrer Peiniger bei ihr gemeldet hat, wird sie aus dem Publikum gefragt. „Nein“, sagt Jutta Fleck, und bleibt eine große Optimistin: „Aber vielleicht kommt ja noch einer “

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })