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Homepage: „Kinder brauchen Herzensbildung“

Prof. Christiane Ludwig-Körner über die aktuelle Debatte zur Kleinkinderbetreuung, ideale Betreuungsschlüssel und Urvertrauen

Stand:

Frau Prof. Ludwig-Körner, in der CDU ist ein Streit zur Familienpolitik entbrannt. Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm hält es für besser, wenn Kinder in den ersten drei Lebensjahren in der Familie betreut werden. Hat er Recht?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Schönbohm eine so allgemeine Aussage gemacht hat. Vielleicht befürchtet er, dass sich Eltern zunehmend mehr gedrängt fühlen, ihre Kinder von Außenstehenden betreuen zu lassen, dass womöglich die „Lufthoheit über den Kinderbetten“ eingeschränkt wird. Natürlich sollten möglichst viele qualitativ gute Bildungs- und Betreuungseinrichtungen auch für kleine Kinder zur Verfügung gestellt werden. Aber es muss auch gleichzeitig eine Wahlmöglichkeit für Eltern bestehen bleiben. Nachdenklich stimmt es mich schon, ob nicht mit der aktuellen Familienpolitik vor allem eine versteckte Arbeitsmarktpolitik einhergeht, das heißt, dass vor allem die Frauenerwerbsquote gehoben werden soll. Natürlich sollen Frauen verbesserte Möglichkeiten erhalten, Beruf und Kinder gut verbinden zu können. Aber wir müssen auch hinschauen, welche Bedingungen vor allem kleine Kinder benötigen, um gut aufwachsen zu können.

In Brandenburg gibt es umfassende Kita-Angebote, reicht das aus?

Es gibt in Brandenburg ein quantitativ sehr gut ausgebautes Kita-Angebot, aber es muss noch viel mehr in die Qualität der Kinderbetreuung investiert werden. Dadurch, dass es in Brandenburg beispielsweise sehr viele Zweidrittelstellen im Kitabereich gibt, wird Kindern, die ganztägig betreut werden, tagtäglich ein Wechsel ihre Bezugspersonen zugemutet. Das kann vor allem bei sehr kleinen Kindern schädigend sein. Es fehlen auch gut qualifizierte Tagesmütter. Mich überrascht es immer wieder, dass es etwa für Piloten selbstverständlich ist, sie hinsichtlich ihrer – auch persönlichen – Eignung auszuwählen, wir uns aber scheuen, dieses auf die Personen zu übertragen, denen wir unsere Kleinkinder anvertrauen. Bezüglich eines guten Umgangs mit Kindern, einem wirklichen Hinschauen, was die Kinder individuell benötigen, da muss sich auch in Brandenburg noch viel verändern.

Wie müsste ein sinnvoller Betreuungsschlüssel aussehen?

Der Betreuungsschlüssel ist abhängig vom Alter der Kinder. Je jünger sie sind, desto geringer muss er sein. Können Sie sich vorstellen gleichzeitig sechs Säuglinge oder Kleinkinder aufzuziehen? Bereits eine Mutter mit Drillingen gerät an die Grenze ihrer Belastungsfähigkeit. Bei Säuglingen und Kleinkindern müsste es einen Schlüssel von 1:3 geben. Das ist ein Schlüssel, den es in Deutschland nur in privaten Einrichtungen gibt, der aber in skandinavischen Ländern anzutreffen ist. Wenn wir wirklich Bildungsprozesse in der frühen Kindheit verändern wollen, müssen wir vor allem hier ansetzen und nicht nur bei einem quantitativen Ausbau von Kitas stehen bleiben. Die Dänen stecken zum Beispiel 100 Prozent mehr ihres Bruttosozialproduktes in die Familienförderung als die Deutschen.

Kann der frühe Kita-Besuch nicht auch ein Gewinn für die Kinder sein, etwa in Bezug auf soziales Verhalten?

Forschungen zeigen, dass Kinder nur dann gut lernen, sich Neuem zuwenden können, wenn sie sich gut aufgehoben fühlen. Sind sie innerlich vorrangig damit beschäftigt, die Trennung von der Hauptbindungsperson zu verkraften, interessieren sie sich weder für andere Kinder, noch für Bildungsangebote. Die Bindungsforschungen zeigen, dass in erster Linie sicher gebundene Kinder auch über soziale Kompetenzen verfügen. Wenn die Kinder die Erfahrung machen, dass ihre Betreuungsperson feinfühlig und verlässlich für sie zur Verfügung steht, dann können sie dieses auch im Umgang mit anderen anwenden. Haben sie diese Erfahrungen zuhause nicht sammeln können, benötigen sie professionelle Betreuer, die ihnen dieses im alltäglichen Zusammensein vermitteln. Das kann jedoch nur geschehen, wenn die betreute Gruppe klein ist, und wenn die Betreuer selbst über die Fähigkeiten einer Feinfühligkeit verfügen, was leider nicht immer der Fall ist.

Die Forschung hat auch Indizien dafür, dass die frühe Vermittlung von Wissen, etwa Zweitsprachen, bei Kleinkindern positive Effekte auf die spätere Intelligenz hat.

Ich glaube, wir wollen nicht wahrhaben, in welchem Maße Kinder feinfühlige, verlässliche Bezugspersonen brauchen. Erst dann können sie wirklich gut lernen, sich der „Bildungswelt“ zuwenden. Bildung in der frühen Zeit ist doch vor allem „Herzensbildung“, der Erwerb eines „Urvertrauens“ beziehungsweise der Aufbau eines sicheren Bindungsmusters. Von dieser inneren sicheren Basis aus lernen Kinder sehr leicht und viel. Bildung setzt damit dann auch früh ein, denn diese feinfühligen Eltern oder Betreuungspersonen spüren, woran das Kind Interesse hat, womit es sich beschäftigen möchte. Sie unterstützen die kindliche Neugierde und fördern ein selbstbestimmtes Lernen und nicht nur ein zielorientiertes.

Und der Zeitpunkt?

Es ist richtig, dass dies „Herzensbildung“ frühzeitig einsetzen muss und gerade lernschwache Kinder Unterstützung benötigen. Dazu muss natürlich auch die Qualität der Erzieherausbildung verbessert und vor allem der Betreuerschlüssel in den Kitas gesenkt werden – also weniger Kinder pro Gruppe.

Gibt es Punkte die explizit gegen die Betreuung unter drei Jahren sprechen?

Ja, wenn eben die Betreuer-Kind-Relation nicht stimmt, wenn sich die Betreuer emotional nicht auf die Bedürfnisse des Kindes einstimmen können, und wenn zielorientiertes Lernen vor einem selbstbestimmten Lernen steht.

Ab welchem Alter sollte man die Kleinen in die Kita geben?

Das hängt von der Familie und von den Kindern ab. Bei einigen Familien würde man sich wünschen, dass bereits die Säuglinge von feinfühligen, außenstehenden Personen betreut werden. Für sie müssen sehr früh bereits qualitativ sehr gute Betreuunsgs- und Bildungseinrichtungen zur Verfügung stehen. Würde man Säuglinge und Kleinkinder jedoch fragen können, so würden diese lieber bei ihrer Hauptbindungsperson bleiben, vor allem dann, wenn sie sehr gut mit ihnen umgeht.

Die Unicef-Studie kam jüngst zu dem Ergebnis, dass die Deutschen sich zu wenig Zeit für ihre Kinder nehmen. Welche Erfahrungen haben Sie?

In unserer Gesellschaft muss ein fundamentales Umdenken bezüglich der Wertigkeit von Kindern geschehen. Dieses äußert sich nicht nur darin, wie viel Zeit Eltern für ihre Kinder haben, in dem Sinne, dass sie sich auf die kindlichen Bedürfnisse adäquat einlassen können. Viele Eltern können zum Beispiel mit ihren Kindern nicht richtig spielen. Sie sind nicht in der Lage, in einen wirklichen spielerischen Dialog mit ihrem Kind zu treten, Spielsignale ihres Kindes aufzugreifen und in ein beglückendes gemeinsames Spiel und damit auch in einen inneren Austausch zu kommen.

Was muss passieren?

Wir brauchen eine veränderte Einstellung bezüglich der Fähigkeit der Fürsorge. „Beziehungsarbeit“ gilt in unserer Gesellschaft wenig. Dabei ist sie in meiner Wahrnehmung das Wichtigste. Das zeigt sich bereits in der Bezahlung; ein Umgang mit Geld, materiellen Gütern wird um so höher bewertet. Dabei sind unser höchstes Gut die Kinder. Wenn wir in sie nicht schnellstens investieren, produzieren wir weiteres Leid.

Sind der Ausbau von frühkindlicher Bildung und Ganztagsschulen der richtige Weg, oder vergrößert dies nicht nur die Kluft zwischen Eltern und Kindern?

Die Kluft zwischen Eltern und Kindern entsteht nicht durch Kindertagesstätten und Ganztagsschulen. Wenn es Eltern gelungen ist, ihrem Kind oder ihren Kindern eine feste innere Basis durch ein sicheres Bindungsmuster zu geben, so werden sich diese Kinder auch in Kitas und Ganztagsschulen weiter gut entwickeln. Nachdenken sollten wir vor allem bei den Kindern, die eine schlechtere psychisch-familiäre Ausgangsbedingung haben. Sie benötigen dann andere Bedingungen des Aufwachsens, also feinfühlige, hochprofessionelle Personen, die sich sehr um sie kümmern können.

Sehen Sie die Tendenz, dass Kinder in unserer Gesellschaft wegrationalisiert werden?

Leider ja.

Fragen von Jan Kixmüller

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