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Landeshauptstadt: Kinder sprachlos gemacht

Die Sprachheilschule „James Krüss“ bildet keine ersten Klassen mehr. Die offizielle Begründung lautet: Mangelnder Bedarf. Mancher Schüler aber ist ohne Förderschule zum Scheitern verurteilt.

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Nico hatte einen beschissenen Start. Das lag nicht an ihm, sondern an den Umständen, in die er hineingeboren wurde. Statt zu sprechen, lernte er in der Verwahrlosung zu überleben. Inzwischen ist er sechs Jahre alt und dank der Geduld und liebevollen Betreuung seiner Pflegemutter sowie Frühförderung und Logopädie normal entwickelt. Er ist wissbegierig, aufmerksam und schlau. Nur mit dem Sprechen hapert“s. Er fange jetzt an Drei-Wort-Sätze zu bilden wie Zweijährige. „Der ganze Horror seiner ersten Lebensjahre ist an der Sprache hängen geblieben“, sagt Petra Adolph, Leiterin der Kita Sonnenschein, die Nico seit September 2002 besucht. Trotz der sprachlichen Verzögerung könne der Junge aber mit entsprechender fördernder Begleitung zum nächsten Schuljahr im Herbst eingeschult werden.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Ute Iwer, Diplom-Psychologin der Sozial-Pädiatrischen Abteilung der Oberlinschule. In ihrem Gutachten empfiehlt sie für Nico aufgrund seiner sehr erheblichen Artikulations- und Sprachstörungen die Einschulung in der Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache. Eine ausreichende Beurteilung für die Anmeldung an der Sprachheilschule „James Krüss“, dachte Nicos Pflegemutter Angela Basekow. Hier allerdings erhielt sie die enttäuschende Antwort, dass bereits seit zwei Jahren keine ersten und zweiten Klassen mehr gebildet würden.

Zur Überbrückung der Zeit bliebe Angela Basekow nur die Möglichkeit, ihren Pflegesohn in einer Regelschule unterzubringen, wo er im günstigsten Fall fünf Förderstunden wöchentlich erhalte. Zu wenig, sagt Kita-Leiterin Adolph. „Damit wäre Nico zum Scheitern verurteilt“, erklärt auch seine 41-jährige Pflegemutter. Ihr sei ein Fall bekannt, wo ein Mädchen, das stottere, regulär eingeschult wurde. Es sei von den Mitschülern verspottet und verhöhnt worden. „Jetzt sagt es gar nichts mehr, folgt dem Unterricht stumm“, sagt Angela Basekow. Nach häufigem Versagen verlören die Kinder schnell die Lust an der Schule, vermutet auch Petra Adolph. „So werden Schulverweigerer produziert“, sagt sie. „Die Kinder dumm gemacht.“

„Hier wurde ein System des Scheiterns entwickelt“, sagt Basekow. An einer regulären Schule ginge ihr Pflegesohn unter. Diese grausame Erfahrung wolle sie ihrem Pflegling ersparen, sagt Pflegemutter Basekow und kämpft nun auf allen Ebenen. In einem Brief hat sie sich an Bildungsminister Holger Rupprecht gewandt; außerdem erhielt sie Rederecht im jüngsten Landesbildungsausschuss. Sie spreche nicht nur für Nico, sondern für alle Kinder in ähnlicher Situation. Oft genug hätten Mädchen und Jungen mit Sprachstörungen ebenfalls Eltern mit sprachlichen Defiziten. Und die könnten sich nicht wehren, würden eingeschüchtert, erzählt Angela Basekow. Nico stehe darum exemplarisch für alle, denen bedarfsgerechte Sprachförderung verwehrt werde.

Dass keine ersten Klassen mehr in der Sprachheilschule gebildet werden, wird offiziell mit dem mangelnden Bedarf begründet. Die dem staatlichen Schulamt zugeordnete Sonderpädagogische Beratungs- und Förderstelle der Stadt Potsdam empfiehlt nach einem so genannten Feststellungsverfahren, welche Schulform für das betreffende Kind geeignet ist. In den vergangenen beiden Jahren sei in Potsdam nicht ein Kind dabei gewesen, für das der Besuch der Förderschule empfohlen worden sei, sagt Michael Frey, Leiter der Beratungsstelle. Das führe er auch auf das verfeinerte Verfahren zurück, das seit 2005 in zwei Schritten verlaufe. In Fällen, erklärt er, in denen es unklar sei, ob das Kind lern-, sprach- oder verhaltensbehindert oder nur -auffällig sei, gebe es eine bis zu zwei Jahre andauernde „Förderdiagnostische Lernbeobachtung“. „Wir müsse nicht mehr in 60 Minuten entscheiden“, sagt Frey. Stattdessen werde das Kind an der Regelschule eingeschult und von einem Sonderpädagogen begleitet, gefördert und am Ende beurteilt. Bei den 35 Kindern, deren Lernbeobachtung jetzt abgeschlossen werde, käme die Hälfte inzwischen ohne Förderung aus; die anderen würden im gemeinsamem Unterricht betreut. Normal sprechende Kinder seien ein gutes Sprachvorbild für Kinder mit Auffälligkeiten, sagt Frey. „Es gibt nichts schlimmeres als ein Kind in einer Förderschule unterzubringen, was dort nicht hingehört“, sagt der Sonderpädagoge .

Gemeinsamer Unterricht sei „gut und wichtig“, erklärt Jan Molkenthin, Leiter der Grundschule James Krüss. Es gebe aber eben auch Kinder, für die der Förderunterricht alleine nicht ausreiche. Sie bräuchten laut Molkenthin eine besondere Beschulung mit einem Unterricht, der – wie in seiner Schule – therapeutisch unterlegt sei. Bei „James Krüss“ gebe es Klassenstärken mit maximal zwölf Kindern. Die Lehrer seien doppelt qualifiziert: Als Pädagogen und Logopäden.

Die Zahl der Schulanfänger mit Sprachauffälligkeiten steige, sagt die Leiterin der Kita „Sonnenschein“ und verweist auf die Schuleingangsuntersuchungen. Im untersuchenden Gesundheitsamt hatte man schon vor geraumer Zeit ermittelt, dass jedes sechste Kind mit einem Sprachfehler eingeschult werde. Ihr persönlich seien zehn Fälle bekannt, so Basekow, in denen die Gutachter besonderen Förderbedarf attestierten. „Nur eine Sprachheilschule kommt für meinen Sohn in Frage“, betont die Pflegemutter. In seinem kurzen Leben habe Nico schon so viele Demütigungen erfahren müssen – vor jeder weiteren wolle sie ihn jetzt beschützen.

Nicola Klusemann

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